Musik ohne Leib und Seele

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Hatsune Miku produziert Hits am Fließband und hat unzählige Fans. In Japan ist sie damit ein Superstar. Allerdings ist sie kein Mensch.

Das Stadion tobt, als die Sängerin von unten langsam auf die Bühne gefahren wird. Die Fans strecken Leuchtstäbe in die Dunkelheit, Kreischen übertönt fast schon die Musik. Dann beginnt Hatsune Miku, das Mädchen mit den grünen Haaren, zu singen, ihre Stimme trifft wie immer alle Töne. Und bei aller einstudierter Perfektion kann jeder erkennen: Ein Mensch ist hier nicht der Star. Jedenfalls nicht so richtig.

Durch Lichteffekte wird Hatsune Miku in so etwas wie Lebensgröße auf die Bühne gestrahlt. Spätestens nach ein paar Songs zeigt sich ihre Vielseitigkeit, denn sie kann quasi alles singen: von langsamen Balladen über schnellen Rap zu hartem Metal oder seichtem Pop. Beim grünhaarigen Superstar ist für jeden etwas dabei. Gewissermaßen ist es auch diese Eigenschaft, die Hatsune Miku zu einem der beliebtesten Popstars Japans macht. Aber sie ist ja auch sonst makellos: Sie singt fehlerlos und ihre Stimme schenkt sie jedem, auch dem, der sie verabscheut. Und anders als die meisten Prominenten gibt sie nie Interviews.

Hatsune Mike ist eine Software, in die sich für die Figur Lieder und Choreografien progammieren lassen. Technisch nennt sich das Prinzip Vocaloid. Die Betreiberfirma liefert dazu die Stimme, die in allen Tonlagen singen kann, und den Avatar, also das grafische Aussehen der Figur. Die Lieder hingegen kommen weder von der willenlosen Hatsune Miku noch von ihrer japanischen Urheberfirma Crypton Media Future. Sie kommen von Fans, die für das virtuelle Mädchen, das laut Crypton Media Future ungefähr 16 Jahre alt ist, Werke komponieren und diese ins Programm eingeben.


Über 100.000 Lieder. Von solchen Fans hat Miku reichlich. Auf sozialen Netzwerken wie Facebook sind es mehr als eine Million, die Mehrheit von ihnen kommt aus Japan. Große Konzerthallen füllt Hatsune Miku mit ihren Auftritten regelmäßig, und seit die Software auch in Europa und den USA vermarktet wird, gibt sie auch außerhalb Japans Livekonzerte. Weil das Konzept so gut funktioniert, werben schon weltweit agierende Konzerne wie Google und Toyota mit der Erscheinung des Avatars. Schließlich ist der nicht nur berühmt, sondern produziert auch wie am Fließband: Laut den Urhebern hat Miku schon über 100.000 Lieder gesungen. Jeden Tag dürften neue dazukommen.

Die Idee für den Pop-Avatar basiert auf einer Technologie der Yamaha Corporation, die neben Motorrädern, Musikinstrumenten und HiFi-Produkten auch Software entwickelt. 1998 hat Yamaha ein Programm entworfen, mit dem Stimmen synthetisiert werden konnten. Sechs Jahre später brachte Crypton Media Future damit seine erste Popfigur heraus. 2007, mit dem weiterentwickelten Software-Synthesizer Vocaloid, folgte Hatsune Miku. Übersetzt bedeutet der Name etwa: „der erste Klang aus der Zukunft“.

„Miku kam auf den Markt, als YouTube gerade beliebt wurde. Das war gutes Timing“, sagt Kanae Muraki, Marketingchef von Crypton Media Future. Dass das grünhaarige Mädchen zu einem Erfolg werden würde, sei ihm schnell klar gewesen. Die Stimme basiere schließlich auf der in Japan beliebten Sprecherin Fujita Saki, die aus diversen Anime-Produktionen bekannt ist.

Viele Fans haben Freude daran, weil ihnen beim Komponieren keine Grenzen gesetzt sind. „Ich kann sie Texte über Tabuthemen singen lassen, an die sich ein menschlicher Künstler nie wagen würde“, sagt Hikaru Yamada. Der Student hat sich das Softwarepaket, das in englischer Sprache seit vergangenem Jahr auch in Österreich erhältlich ist, besorgt und schreibt damit jede Woche an Liedern.

Mehr als 20 verschiedene hat er schon fertig und auf Musikplattformen hochgeladen. Ein richtig beliebtes, das Hunderttausende oder Millionen von Klicks generiert, ist dabei noch nicht herausgekommen, aber er will weiter üben. „Vielleicht gelingt mir einmal ein Stück, das dann auf einem der Konzerte gesungen wird. Das wäre traumhaft“, sagt Yamada, schließlich würde er so irgendwie Teil des Popstars. „Bei welchem anderen Interpreten wäre so eine Teilhabe möglich?“

Maschinen ersetzen längst Arbeitskräfte, helfen Menschen in der Pflege. Aber ist ein Algorithmus wie Hatsune Miku auch so gut wie ein echter Popstar? Einen Skandal hat Hatsune Miku zum Beispiel noch nie verursacht. Kein Drogenmissbrauch wie bei Justin Bieber, keine vermeintlich skandalösen Outfits wie bei Lady Gaga oder Alkoholexzesse wie jene von Miley Cyrus. Hatsune Miku bleibt auf ewig süß, man könnte auch sagen: steril. Kritiker beklagen außerdem, dass die Figur das Ende des Künstlers auf der Bühne bedeute. Dass Interpreten mit der Grenze zwischen dem Realen und dem Virtuellen spielen, hat es zwar schon häufiger gegeben. Musiker wie Daft Punk oder die Gorillaz benutzen dafür etwa Maskierungen, Unsichtbarkeit und Videoclips ohne echte Menschen. Aber Hatsune Miku setzt dem Ganzen die Krone auf, indem durch sie der Künstlerbegriff an sich infrage gestellt wird.

Kanae Muraki wehrt sich gegen solche Vorwürfe. „Manchmal erhalten wir Beschwerden, dass wir einen Fake-Künstler entwickelt haben. Aber das sind Leute, die sich mit Miku nicht auskennen.“ Denn Muraki habe nie behauptet, Hatsune Miku sei eine Künstlerin. „Wir nennen sie virtuelle Sängerin. Die Kunst kommt von all den Menschen, die ihr den Input geben.“


Keine Fehler. Dass Hatsune Miku dennoch mit herkömmlichen Künstlern verglichen wird, ist unvermeidbar. 2008 erhielt sie als erste synthetische Figur den in Japan angesehenen Seiun-Preis, der normalerweise für Science-Fiction-Autoren gedacht ist. Außerdem kann Miku eben auch vieles besser: Sie liegt nicht nur bei keinem Ton daneben, sondern kann auch schneller und höher singen als jeder Mensch, gerät nie aus der Puste. Ein Fehler auf der Bühne könnte aber trotzdem passieren – Gitarre, Schlagzeug werden von Menschen gespielt. Daran wird sich auch nichts ändern, beteuert Kanae Muraki. Sonst könnte man bei Hatsune Mikus Auftritten nämlich wirklich nicht mehr von Liveshows sprechen.

Virtueller Star

Hatsune Miku ist eine virtuelle Figur, die 2007 vorgestellt wurde. Fans laden selbst komponierte Musik hoch, die von der künstlichen Stimme der Figur interpretiert wird – zum Teil auch auf eigenen Konzerten, bei denen Miku durch eine Lichtprojektion auf die Bühne gezaubert wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2014)

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