Tom Rachman: "Zuhause ist da, wo meine Bücher sind"

Der Autor Tom Rachman weiß ziemlich genau, wie es ist, wenn man sich heimatlos fühlt.
Der Autor Tom Rachman weiß ziemlich genau, wie es ist, wenn man sich heimatlos fühlt.(c) DTV/Alessandra Rizzo
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Der gebürtige Brite Tom Rachman reiste jahrelang für die Nachrichtenagentur AP und die "International Herald Tribune" durch die Welt. Heute schreibt er Bestsellerromane über Menschen, die heimatlos sind – wie er.

Wie sind Sie auf die Idee zu Ihrem zweiten Roman „Der Aufstieg und Fall großer Mächte“ gekommen, einem Roman über die verrückte Welt der 30-jährigen Tooly, die sich allein durch viele Länder schlägt?

Tom Rachman: Zuerst war da dieses Bild von einem kleinen Mädchen, das in einem Raum sitzt mit einem alten und einem jüngeren Mann. Stunden vergehen, niemand kommt, um das Mädchen abzuholen. Irgendwann begreifen die Männer, dass sie sich um dieses Kind kümmern müssen. Diese seltsame Szene warf einige Fragen auf: Wer ist dieses Kind? Wer hat es dort allein gelassen? Was würde mit ihr passieren, wenn sie allein bleibt? Ich habe einige Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass ich diese Fragen nur beantworten kann, wenn ich ein Buch schreibe.

Eine gewisse Heimatlosigkeit verbindet die Figuren in Ihrem Buch. Das erinnert an Ihre Lebensgeschichte. Sie sind in London geboren, in Kanada aufgewachsen, haben in New York, Sri Lanka, Indien und Rom gelebt und wohnen jetzt wieder in London.

Ihre spezielle Geschichte ist nicht meine Geschichte, aber viele Fragen, die sie beschäftigen, sind solche, die ich mir auch gestellt habe. Bis zu meinem siebenten Lebensjahr fühlte ich mich englisch und als Teil einer Gruppe. Danach wusste ich nicht mehr, wer oder was ich war. Als ich mit sieben nach Vancouver zog, lernte ich, dass ich einen anderen Akzent habe und eben kein Kanadier war, aber Engländer war ich auch nicht mehr. Ich habe schon sehr früh nicht gewusst, wohin ich gehöre. Und das wurde durch meine Familie verstärkt, die stets so empfand, weil sie nie sehr sesshaft war. Meine Vorfahren lebten in Australien, China, Südafrika, Argentinien, Brasilien und in der Schweiz. Mein Vater wurde in Afrika geboren, meine Mutter in Wales und ihre Eltern kamen aus unterschiedlichen Ländern. Vor allem in meiner Jugend bis zu meinen frühen Zwanzigern habe ich stets nach einer Gruppe gesucht, zu der ich gehöre. Nach und nach habe ich begriffen, dass es so eine Gruppe vielleicht gar nicht gibt für mich. Das führte zu vielen Fragen: Wer formt dich? Ist es deine Familie, sind es deine Freunde oder bist es einfach du?

Das trifft auch auf Tooly zu. Sie schöpft ihre Stärke vor allem aus sich selbst.

Ja, und sie verändert sich ständig. Schon als kleines Mädchen fragt sie sich immer wieder: Wer will ich jetzt sein? Auch ich habe mich jedes Jahr nach den Ferien gefragt, wer ich heuer sein möchte. Ich war jedes Jahr jemand anderer. Einmal gehörte ich zu den coolen Kindern in der Klasse, ein anderes Mal zu den fleißigen, im nächsten Jahr war ich nur auf Musik konzentriert. Ich wollte immer Schriftsteller werden und als ich jünger war, hatte ich stets Angst, dass ich das gar nicht könnte, weil mir so etwas wie Heimat fehlte. Viele berühmte Schriftsteller haben eine Kulisse für ihr Schreiben: Charles Dickens hatte London, William Faulkner den Süden von Amerika, Proust sein kleines Dorf.

Diese frühe Angst war offensichtlich unberechtigt.

Als ich meinen ersten Roman schrieb, ist mir aufgefallen, dass alle Figuren verloren und heimatlos waren. Seither denke ich, vielleicht ist das einfach mein Kontext. Und das Thema Heimatlosigkeit ist heute sicher relevanter als vor 200 Jahren. Heute ist es ganz normal, dass du in einer anderen Stadt oder einem anderen Land aufwächst als deine Ururgroßeltern, dass dein Partner aus einem anderen Land kommt und deine Kinder drei Sprachen sprechen.

Gibt es heute ein Zuhause für Sie?

Zuhause ist da, wo meine Bücher und meine Freunde sind. Da die aber in der ganzen Welt verstreut leben, ist es einfacher, meinen Büchern zu folgen.

Trotzdem haben Sie sich entschieden, wieder in Ihrem Geburtsland England zu leben.

Ich bin immer wieder für kurze Zeit zurückgekehrt, aber ich hatte Jahrzehnte nur eine vage Idee von dem Land. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, wieder dort zu leben. Meine Freundin ist Italienerin, ich war allerdings Italien müde und wollte woanders leben, aber nicht so weit weg von ihr. Da erschien mir London passend.

Das Buch spielt in vielen verschiedenen Ländern, auch in einigen, in denen Sie nie gelebt haben. Wieso haben Sie genau diese gewählt?

Ich habe Länder ausgesucht, die entweder im Zentrum des Weltgeschehens stehen oder ganz weit davon entfernt sind. Die Handlung spielt zum Beispiel in New York kurz vor den Anschlägen 2001. Die Flugzeugabstürze kommen nie vor, aber der Leser weiß, dass sie passieren werden. Ich schildere eine Zeit, in der vor allem junge Menschen diese Haltung hatten, dass das Leben in Manhattan richtig langweilig sei. New York war gentrifiziert, nicht mehr so gefährlich, jeder sprach davon, dass es die Hauptstadt der Welt war. Es lag so eine Selbstzufriedenheit in der Luft. Niemand ahnte, dass sich das so schnell ändern würde. Dagegengesetzt habe ich Bangkok im Jahr 1988 – also Asien zu einer Zeit, als dieser Kontinent noch nicht einen solchen Aufschwung wie heute erlebt hat. Ich mag es, diese verschiedenen Perioden und Zeiten durcheinanderzumischen. Und zuletzt habe ich mich für Wales entschieden, den Geburtsort meiner Mutter. Vielleicht auch, damit ich einen Grund für lange Spaziergänge in Wales hatte.

Es ist paradox, dass wir in einer globalisierten Welt leben, in der Reisen und das Übersiedeln in andere Länder für viele so einfach sind und auf der anderen Seite so viele Probleme mit Flüchtlingsströmen aus Krisenregionen wie Syrien oder Afrika haben.

Das ist vielleicht das größte Paradoxon der Gegenwart. Es gibt da dieses Buch aus den 1980ern, das hieß „Jihad versus McWorld“. Damals erhielt es keine große Beachtung, aber das Szenario ist heute eingetreten: Wir haben eine geteilte Welt. Es gibt viele Gruppen, die sich in kleine Identitäten unterteilen und einander bekriegen – und auf der anderen Seite eine Masse von Menschen, die durch die Globalisierung überall Zugang hat. Im Westen kann heute jeder überallhin und auf der anderen Seite gibt es Flüchtlinge, die keinen Platz finden. Dahinter steckt die berechtigte Frage, was mit existierenden Kulturen passiert. Es gibt die Angst, dass zu viele neue Menschen die eigene Kultur zerstören. Und das ist mein zentrales Thema: Brauchen wir eine Kultur und eine Gruppe, zu der wir uns zugehörig fühlen?


Was haben Sie Neues über England gelernt, seit Sie hier wieder leben?

Ich lerne viel über England, aber ich empfinde es noch immer nicht als mein Land. Ich denke von keinem Land, es ist meines. Es gibt viele Länder, deren Kulturen ich schätze und die Einfluss auf mich haben. Was mir vor allem die britische Politik gezeigt hat, ist, dass es überall auf der Welt eine Frustration über die Demokratie gibt. Die Menschen wollen sich nicht mehr mit ihrer Machtlosigkeit zufriedengeben. Obwohl es immer so war, dass in Demokratien die Mehrheit entscheidet, gibt es den Unwillen der Minderheit, das zu akzeptieren. Das hat auch der Unabhängigkeitswunsch von Schottland gezeigt oder der Aufstieg der Tea Party in den USA.

Könnte Wales auch irgendwann die Unabhängigkeit von England fordern?

Es gibt eine nationalistische Bewegung in Wales. Aber nach der Niederlage für Schottland sind solche Versuche eher von Misserfolg gekrönt.

Ihr erster Roman „Die Unperfekten“ nahm 2009 einige der Entwicklungen der Printmedien vorweg. Welche Reaktionen bekamen Sie auf das Buch?

Viele Journalisten erzählten mir, sie würden die Charaktere aus der Zeitungsredaktion wiedererkennen. Aber das Interessante war: Das erzählten sie mir überall auf der Welt.

Heißt das, Zeitungsredaktionen sind überall gleich?

Vielleicht. Oder es heißt, dass es einen bestimmten Menschenschlag gibt, der in Zeitungsredaktionen landet. Oder es ist der Job, der diese Menschen nach einer gewissen Zeit alle gleich formt.

Für Sie war dieser Roman der Eintritt in einen neuen Beruf. Sie legten das Reporterleben ab und wurden Schriftsteller.

Eigentlich war es umgekehrt: Ich wollte immer Schriftsteller werden und begann im Journalismus, weil ich Erfahrungen sammeln wollte, über die ich schreiben könnte. Direkt nach der Universität war ich 22 und viel zu jung und unerfahren, um Romane zu schreiben, die irgendjemand lesen würde. Mit 29 habe ich mich wieder an meinen eigentlichen Berufswunsch erinnert und mich ans Bücherschreiben gemacht.

Steckbrief

Tom Rachman
geboren 1974 in London, aufgewachsen in Vancouver (Kanada), Filmstudium an der Universität von Toronto.

Ab 1998
arbeitete er für die Nachrichtenagentur Associated Press und lebte u. a. in New York, Sri Lanka, Indien und Rom. Ab 2006 war er Auslandskorrespondent für die „International Herald Tribune“ in Paris.

2009
veröffentlicht er seinen ersten Roman „Die Unperfekten“ über den Alltag einer sterbenden Zeitungsredaktion in Rom. Das Buch wurde zum Bestseller, Brad Pitt kaufte die Filmrechte.

Im Herbst 2014
erschien sein zweiter Roman „Aufstieg und Fall großer Mächte“ (Deutscher Taschenbuch Verlag). Rachmans älterer Bruder Gideon ist Kolumnist der „Finanical Times“. Tom Rachman lebt heute in London.

Herr Rachmann, darf man Sie auch fragen...


1. . . welcher Autor Sie am meisten beeinflusst hat?

So viele! Aber den größten Einfluss hatte wahrscheinlich Charles Dickens. Seine Geschichten wurden mir als Kind vorgelesen und ich zitiere Dickens oft in „Aufstieg und Fall großer Mächte“. George Orwell mochte ich als Teenager. Graham Greene, Virginia Woolf und Bruce Chatwin entdeckte ich in meiner Studentenzeit. Leo Tolstoi, Jane Austen, Anton Tschechow und Katherine Mansfield bedeuten mir viel. Zuletzt haben mich „Stoner“ von John Williams, „The Blue Fox“ von Sjón und „Man with a Blue Scarf“ von Martin Gayford begeistert.

2. . . was Literatur und Journalismus gemein haben?

Derzeit stehen sowohl der Literatur- als auch der Medienbetrieb vor den gleichen technologischen Herausforderungen. Beide erleben den größten Transformationsprozess seit ihrem Bestehen. Es ist zwar eine unsichere, aber auch fruchtbringende Zeit – und Journalisten und Autoren können wenigstens darüber schreiben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2015)

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