Fatih Akin: "Echt, Alter, so ist das Leben nicht!"

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Der deutsche Regisseur erzählt von einem 500-seitigen Roman, den er mit 14 für seine erste Liebe geschrieben hat, von Mutproben - und erklärte was das Filmemachen mit dem Boxen gemein hat.

In „Tschick“ steigen zwei 14-Jährige in einen geklauten Lada und brettern über die Landstraße. Einmal landen sie sogar auf der Autobahn. Was war das Gefährlichste, was Sie jemals gemacht haben?

Fatih Akin: Daran muss ich immer wieder denken! Wenn das eines meiner Kinder machen würde! Bei uns in der Straße, wo sich Plattenbau an Plattenbau reiht, stand am Ende ein 16-stöckiges Haus. Von dort konnte man die ganze Stadt überblicken! Die Kids von der Straße haben sich, vor allem im Winter, immer im Treppenhaus getroffen, das war wie eine Höhle. Dort haben wir geraucht und geknutscht. Aufs Dach kamen wir nicht, die Luke war verschlossen. Aber einmal war die für ein paar Wochen offen, und wir stiegen hinauf. Als Mutprobe habe ich mich ganz an den Rand des Daches gestellt, direkt an die Kante. Ein Windstoß, und ich wäre runtergeflogen. Ich kann das heute überhaupt nicht mehr verstehen, vor allem, weil ich ja unter Höhenangst leide: Ich klettere nicht einmal eine Leiter hoch.

Wem waren Sie ähnlicher als Kind: Dem sanften Maik? Oder Tschick, der trinkt und immer einen coolen Spruch auf Lager hat?

Das kommt auf das Alter an. Mit 14 war ich sicher Maik ähnlicher. Ich habe eine Brille getragen, ich war ja kurzsichtig, und sah aus wie so ein typisches intellektuelles Kind. Heute ist das ja anders, heute tragen die Zuckerbergs Brillen und sind reich, aber in den 80er-Jahren war das eine Strafe. Ich habe meinen drei Jahre älteren Bruder bewundert: Ich bin noch so spackig herumgerannt, und er hat schon zerrissene Jeans getragen, weißes T-Shirt und schwarze Lederjacke drüber, dazu Cowboystiefel, und dann hat er auch noch geraucht! Ich fand ihn sehr cool. Mit 16 war ich dann eher wie Tschick. Ich war eine Zeit lang Mitglied einer Gang. Dafür musste ich meine Brille verstecken und habe nichts mehr gesehen. Aber ich war immer eher am Rande dabei, ich war nicht kriminell. Ich hatte nicht diese Energie.

Was ist aus den Mitgliedern der Gang geworden?

Viele sind im Knast, einige abgeschoben. Und viele nehmen Drogen.

Ich wollte mit Ihnen über die Freiheit reden: Mich hat „Tschick“ an Ihren Film „Gegen die Wand“ erinnert. Zwei ganz verschiedene Personen aus ganz verschiedenen Kreisen finden durch Zufall zusammen und brechen gemeinsam aus. Nur dass „Gegen die Wand“ schwarz ist und „Tschick“ fröhlich.

Die beiden Filme enden auch ähnlich. In „Gegen die Wand“ gehen Sibel und Cahit getrennte Wege. Und bei meinen Jungs ist das auch so – man weiß nicht, ob sie sich jemals wiedersehen. In dieser Hinsicht bin ich strenger als das Buch von Wolfgang Herrndorf. Im Buch wird Tschick ins Heim gesteckt, kommt aber nach drei Wochen wieder heraus, und Maik freut sich darauf, ihn wiederzusehen. Und mit Isa ist er unter der Weltuhr am Alex verabredet. Ich habe mir gedacht: Echt, Alter, so ist das Leben doch nicht! Mein Kino ist nicht weichgespült.

Die beiden Buben haben den Sommer ihres Lebens. Sagt dieser Film seinem Publikum: „Traut euch doch was?“

Darüber habe ich lange mit meinem Kameramann debattiert. Der hat keine Kinder und ist schon ein bisschen älter als ich, und ich pflege mit ihm ein eheähnliches Verhältnis. Wir arbeiten schon sehr lange zusammen. Er war empört darüber, dass „Tschick“ mittlerweile Schullektüre ist. Das sei unverantwortlich, hat er gemeint. Was auf diesem Trip alles hätte passieren können! Die beiden Jungs hätten sterben können, sie hätten andere Leute mit in den Tod reißen können, es hätten andere Kinder sein können, die dabei draufgehen! Er wurde richtig heftig. Ich habe geantwortet: Hätte! Ich glaube nicht, dass der Film sagt: Klau ein Auto und fahr durch die Gegend. Und selbst wenn der Film das sagen würde: Ein Film ist schließlich nicht die Mutter und nicht der Vater. Es gibt Eltern, deren Aufgabe es ist es, die Kinder vor den Gefahren und dem Unglück dieser Welt so weit wie möglich zu schützen, und das bedeutet auch, ihnen beizubringen: Man stiehlt keine Autos und erst recht nicht, wenn man noch keinen Führerschein hat. Das Kino muss das doch nicht leisten!

Naja, der Film fordert nicht zu kriminellen Handlungen auf. Aber schon dazu, etwas auszuprobieren. Sich etwas zu trauen.

Ja, das schon. Mich hat er sicher gefordert. Ich habe das Angebot, diesen Film zu machen, sehr, sehr kurzfristig bekommen. Sieben Wochen vor Drehbeginn, es gab noch kein Drehbuch, ein Ding der Unmöglichkeit. Eigentlich macht man das nicht. Vor allem ich nicht! Ich wirke vielleicht ein bisschen irre, aber in Wirklichkeit bin ich recht vorsichtig. Aber ich habe das Angebot angenommen, weil ich mir dachte: Also komm, die Jungs haben sich auch getraut! Die fahren los. Ohne Ziel. Einfach so. Und vielleicht war das genau der Weg, diesen Film zu machen. Bis jetzt hat sich das jedenfalls als richtig erwiesen.

Das ist eine nette Geschichte.

Vor allem ist sie wahr.

Ich hätte sie auch genommen, wenn sie gelogen wäre. Aber wieso sagen Sie, Sie wirken manchmal irre?

Ich wirke manchmal unvernünftig. Der erste Eindruck, den ich hinterlasse, ist meist ein unaufgeräumter, ich wirke durcheinander, komme schon einmal zu spät oder vergesse einen Termin, verfahre mich, betrinke mich manchmal. Aber wenn ich meine Arbeit mache, dann bin ich so calvinistisch wie möglich, ich versuche, das Budget nicht zu überziehen, bleibe im Zeitrahmen, ich bin vorbereitet. Aber es ist gut, wenn die Leute glauben, ich sei ein bisschen schlampig. Es ist besser, wenn sie einen unterschätzen. Das gibt einem mehr Freiraum.

Der Film und das Buch zeigen, wie gefährlich die Pubertät ist. Es könnte jederzeit kippen.

Ich hoffe ja, dass meine Kinder nach der Mutter kommen. Zumindest bei meinem Sohn ist das so, er ist jetzt elf Jahre alt und viel vernünftiger als ich in dem Alter.

Hätte es bei Ihnen denn kippen können?

Zum einen natürlich wegen der Gang. Davor hat mich meine Liebe zur Kunst bewahrt – und meine Eltern. Und dann war ich so unglücklich verliebt! Sie hat mein Herz in zehntausend Teile zerbrochen! Dieses Mädchen hat mich fix und fertig gemacht. Sie ist einer der Gründe, warum ich Filme mache: Weil ich diesen Schmerz immer in mir getragen habe, und so konnte ich ihn verarbeiten, das war meine Therapie.

Wie alt waren Sie da?

Ich war von 14 bis 21 in dasselbe Mädchen verliebt. Es war ganz ähnlich wie in „Tschick“, als ich das Buch gelesen habe, erkannte ich das sofort wieder: Ich wollte immer etwas von ihr, all die Jahre über, und sie wollte nie etwas von mir, gar nicht. Es war schrecklich. Aber irgendwann mit 21 drehte sich das: Wir haben uns geküsst! Und ich habe gemerkt: Ich will gar nicht mehr. Was auch immer vorher da war, jetzt ist es weg. So endet ja auch der Film „Gegen die Wand“.

Haben Sie ihr denn gezeigt, dass Sie verliebt waren?

Ganz am Anfang nicht. Aber dann habe ich ein Buch für sie geschrieben, 500 Seiten lang, mit 14!

So wie Maik, der ewig an einem Porträt seiner Angebeteten arbeitet. Da geht es ja nicht nur um die Kunst, sondern man will ja auch durch den ganzen Aufwand seine Liebe beweisen.

Ich habe die 500 Seiten mit der Hand geschrieben. Ich schenke ihr also das Buch, und Jahre später frage ich sie, ob ich es vielleicht kopieren kann, es war ja ein Einzelstück, ich hatte selbst kein Exemplar davon. Und es stellt sich heraus: Sie hat es verloren! Sie wäre niemals die Richtige gewesen! Ich habe Besseres verdient! Ich habe auch Besseres bekommen.

Denken Sie eigentlich mit Wehmut an Ihre Jugend?

Nein, Gott sei Dank ist das vorbei!

Was ist das Schönste am Filmemachen?

Das Drehen! Das ist wie ein Daueradrenalinschub, Adrenalin macht ja süchtig, beim Drehen habe ich jeden Tag die volle Dröhnung.

Da muss man nicht in den Lada steigen. Haben Sie sonst noch eine Methode versucht, sich einen Adrenalinschub zu versetzen?

Ja! Ich habe geboxt. Ich habe es auch wegen der Schmerzen gemacht: Du wirst getroffen, du glaubst kurz, du stirbst, und überlebst dann doch. Das verschafft dir eine ganze Ladung Glücksgefühle. Darauf kann man auch junken.

Steckbrief

1973
wurde Fatih Akin als Sohn türkischer Einwanderer in Hamburg geboren.

2004

kam „Gegen die Wand“ ins Kino. Für diese intensive Geschichte einer jungen Frau, die aus ihrer türkischen Familie ausscheren will und dafür einen älteren Alkoholiker heiratet, erhielt Akin den Goldenen Bären der Berlinale.

2007
drehte Fatih Akin „Auf der anderen Seite“. Das Drama wurde beim Wettbewerb des 60. Filmfestivals in Cannes erstmals gezeigt und erhielt unter anderem den Preis für das beste Drehbuch.

2015

übernahm Fatih Akin sehr kurzfristig die Verfilmung von Wolfgang Herrndorfs Bestseller „Tschick“. Der Film ist derzeit im Kino zu sehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.09.2016)

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