Seoul: Gangnam-Style-Cuisine

Meer. Noryangjin ist der Umschlagplatz für Fisch in den abenteuerlichsten Formen.
Meer. Noryangjin ist der Umschlagplatz für Fisch in den abenteuerlichsten Formen.Reuters
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Jenseits von Kimchi: Eine Tour de force zu Zimt-Schweinsbäuchen, scharfen Saugnäpfen und Reiskrustentee. Die Küche Seouls beurteilt demnächst auch der Guide Michelin.

Der tote Arm wehrt sich. Windet sich, weicht dem sich nähernden Stäbchen aus, saugt sich widerspenstig auf dem Teller fest. Vor drei Minuten noch war er Teil eines kleinen Oktopus, der quicklebendig im Becken eines lauten Marktlokals schwamm. Nun, nachdem lebend in Stücke gehackt und mit Sesamöl, Gurkenstreifen und Chilisauce gemischt, ist er mit spitzen Schreien rund um den Tisch konfrontiert. Der Wirt grinst. Er kennt die Reaktionen der Touristen auf das Schauspiel. Und erzählt, dass jedes Jahr soundsoviele Menschen an Stücken von Oktopustentakeln ersticken, die sich mit noch funktionierenden Saugnäpfen im Schlund festklammern. Und angesichts der riesenhaften Tiere, deren Arme man womöglich ausgebreitet auf den Tischen des Noryangjin-Fischmarkts liegen gesehen hat, darf man das dem Wirt auch glauben.

Rustikal. Barbecue auf der Gasse: Fleisch wird hier stets mit der Schere geschnitten.
Rustikal. Barbecue auf der Gasse: Fleisch wird hier stets mit der Schere geschnitten. (c) Anna Burghardt

Rotes, scharfes Image. Der Living Octopus ist vermutlich die extremste kulinarische Erfahrung, die man in Südkoreas Hauptstadt Seoul machen kann – man kann freilich die Geschmäcker dieser Stadt durchaus auch aufsaugen, ohne sich an halb lebendige, rohe Saugnäpfe zu wagen. Andere typische Gerichte geben sich nämlich weitaus zahmer, leiser – das Image einer feurigen, überroten, fleischlastigen Landesküche vermag man nach ausgedehnten Touren zu den Herden und Marktständen Seouls jedenfalls getrost verwerfen. Wie der renommierte Kulinarikjournalist SungYoon Kim von der Tageszeitung „Chosun Ilbo“, der das „Schaufenster“ in die Küchen der Metropole einführte, erzählt, sei dieses Image nicht zuletzt den vielen Auslandskoreanern zu verdanken: Diese, oft keine gelernten Köche, hätten vor allem in den USA eine sehr simple, eingeschränkte Palette der vielfältigen Küche Koreas etabliert – vergleichbar mit den bäuerisch-schlichten Formen der an sich hoch differenzierten türkischen Kochkultur hierzulande. Gegen das rot-fleischig-scharfe Image arbeiten nun Gerichte wie die sanftmütige Pinienkernsamtsuppe im Congdu, einem niveauvollen Restaurant beim Deoksugung-Palast im Zentrum. Diese Suppe bezieht sich auf Koreas Geschichte und zitiert auf kulinarische Weise die Pinienkerne als das „Fleisch“ des ehemals armen, aber sehr waldreichen Landes. Ebenfalls im Congdu kommen Garnelen auf den Tisch, die in einem Holzbottich auf Piniennadeln und heiße Steine gebettet wurden: Vor den Augen der Gäste wird Soju, das allgegenwärtige Reisdestillat, dazugegossen, die Garnelen dürfen kurz im heißen Dampf garen. Und anders als bei den zahlreichen Businessmännern und -frauen, die – „Work hard, party hard“ – dank Soju an Freitagabenden schon um 18 Uhr fast bewusstlos durch die Straßen krabbeln, ist das Ergebnis bei den Garnelen ein erfreuliches.

Saisonal. Die Kimchi-Auswahl auf den Märkten ist riesig. Und Kimchi allgegenwärtig.
Saisonal. Die Kimchi-Auswahl auf den Märkten ist riesig. Und Kimchi allgegenwärtig. (c) Anna Burghardt

Ebenfalls weder rot noch scharf sind die dünnen Gimbap-Rollen aus Reis, Gemüse und Seetang, quasi die Maki Seouls, die man auf allen Märkten und bei Straßenständen bekommt. Oder Buchweizennudeln in sehr neutraler, gekühlter Brühe, Mul-naengmyeon genannt, deren Qualität merkbar vom Buchweizenanteil abhängt (der Teig besteht zu einem Großteil aus billigerer Süßkartoffelstärke). Es zahlt sich aus, sich zu erkundigen, wo es die besten Mul-naengmyeon gibt, und ein bisschen mehr zu investieren: Jene im Gwangjang-Markt etwa schmecken weitaus langweiliger als die im Woo Lae Oak, einem gediegenen Lokal, das als der Spezialist für die kalten Buchweizennudeln gilt.

Erholung am Kanal. Wer den direkten Vergleich sucht, kann diese beiden Adressen für die berühmte kühle Suppe gleich nacheinander aufsuchen – es trennt sie quasi nur der Kanal Cheonggyecheon. (Man braucht erst gar nicht versuchen, sich die Namen zu merken, auch wegen unterschiedlicher Transkribierungen im Englischen, die in Seoul selbst ausgeschildert sind). Der Kanal durchschneidet das Zentrum der Zehn-Millionen-Einwohner-Metropole auf sechs Kilometern Länge, führt von der beeindruckenden Statue Sejong des Großen gen Osten. Von den 1960er-Jahren bis 2005 war der Kanal von einer großen Straße verdeckt, heute ist er freigelegt und ein beschauliches Erholungsziel für kurze oder längere Pausen: Man lustwandelt und verdaut vor sich hin, ein Geschoß unter dem belebten Straßenniveau unter freiem Himmel, man passiert Klanginstallationen sowie wechselnde Kunstausstellungen und überquert den Kanal je nach Ziel und Laune mit ein paar beherzten Schritten über flache Steine – wenn nicht gerade ein weinendes Kind mitten im flachen Flüsschen steht und sich weder vor noch zurück traut.

Chic. Im O’Neul: Danish-Modern-Möbel und feinfühlige neokoreanische Küche.
Chic. Im O’Neul: Danish-Modern-Möbel und feinfühlige neokoreanische Küche. (c) Anna Burghardt

In Seoul sei das Interesse für Essen und Trinken vergleichsweise spät, erst um das Jahr 2000, aufgekommen, erzählt SungYoon Kim, der an der Slow-Food-Universität im Piemont studiert hat und für viele Koreaner als Koryphäe in Feinschmeckerfragen gilt. Auch Wein wurde erst um die Jahrtausendwende populär. Heute serviert man im schicken Restaurant O’Neul einen Pinot noir vom Johanneshof Reinisch in Riedel-Gläsern zum zimtgeschmorten Schweinsbauch mit Melanzani, der trübe Reiswein Makgeolli – der Herstellung nach vielmehr ein Bier – wird in Craftbeer-ähnliche Sphären gehievt (samt Versionen aus schwarzen Bohnen), und der flaschenvergorene, trockene Sprudel Omy-Rosé aus der Schisandria-Beere wird als koreanischer Champagner bezeichnet und stolz bei Staatsbesuchen ausgeschenkt.

Das O’Neul, im ruhigen Botschaftsviertel Yongsan zwischen dem innerstädtischen, grünen Berg Namsan und dem Fluss Hangang gelegen, ist ein gutes Beispiel für die ziemlich junge Riege jener Restaurants, die sich von Keramikern eigenes Geschirr machen lassen und sich der koreanischen Kochkultur und den Jahreszeiten kreativ nähern. Dem Frühling huldigt man im O’Neul, das mit dänischen Möbeln aus den 1960er-Jahren eingerichtet ist, mit zarten Sprossen und jungen Baumtrieben, im Herbst kommen die kostbaren Matsutake-Pilze und Wurzeln auf den Tisch, im Winter Austern und viel Rindfleisch. „Koreaner lieben fettes Essen“, sagt SungYoon Kim. „Schweinsbauch ist bei uns der teuerste Teil des Schweins. Wobei sich diese Vorliebe gerade etwas ändert, zugunsten weniger gehaltvoller Teile.“ Der fette Tiefseefisch Mora moro etwa wird im O’Neul mit drei Jahre altem fermentierten Rettichgrün serviert, Ochsenschwanz mit geriebenen Birnen, Knoblauch und Jungzwiebeln geschmort – und brennheiß serviert. „Unser Essen muss richtig heiß sein. Das, was Europäern schon die Zunge verbrennt, ist für uns Koreaner gerade lauwarm“, meint SungYoon Kim.

Schuhfrei. Das Doore ist ein sehr traditionelles Restaurant, man sitzt auf dem Boden.
Schuhfrei. Das Doore ist ein sehr traditionelles Restaurant, man sitzt auf dem Boden. (c) Anna Burghardt

Ohne Reis keine Mahlzeit. Nach vielen gehaltvollen Gängen aus Fisch, Fleisch und fermentiertem Gemüse sagt der Restaurantkritiker einen Satz, der die Philosophie eines koreanischen Mahls auf den Punkt bringt: „Und wo bleibt jetzt der Hauptgang?“ In Seoul ist eine Mahlzeit nämlich erst dann eine, wenn Reis oder Nudeln auf dem Tisch stehen – egal, wie viele Gänge es vorher gab. Apropos Gänge: „Bis in die 1970er-Jahre wurde immer alles gleichzeitig auf den Tisch gestellt“, erst mit steigendem westlichen Einfluss habe sich das Nacheinander-Servieren etabliert.

Im Doore, einem traditionellen Restaurant im kleinteiligen Galerienviertel Insadong, bekommt man auf dem Boden sitzend die alte Variante serviert: Zahlreiche Teller und Schüsselchen werden auf dem Tisch arrangiert, der in den Boden eingelassen ist, damit das Sitzen einfacher wird. Und auch hier kommt zum Hauptgang noch eine ordentliche Portion Reis.

Auf die Nudel-Reis-Doktrin zu verzichten wagen nur wenige Restaurants, die auch Anwärter für „Michelin“-Sterne sind, die in Seoul heuer erstmals vergeben werden. Etwa das Poom, hoch auf dem Namsan gelegen, wo man eine französisch beeinflusste Linie fährt. Das Jungsik im Reichenviertel Gangnam, das auch eine Dependance in New York hat. Oder das Mingles, ebenfalls in Gangnam, Nummer 15 in der Asia’s-50-Best-Liste. Küchenchef Mingoo Kang hat bei Martín Berasategui im spanischen San Sebastián sowie im Nobu in Miami gelernt und bietet eine modische neokoreanische Küche: etwa eine Crème brûlée mit der Misopaste Doenjang, traditionell eine würzige Grundlage zahlreicher Gerichte.

Hotspot. Das Mingles gilt derzeit auch international als Seouls führendes Lokal.
Hotspot. Das Mingles gilt derzeit auch international als Seouls führendes Lokal. (c) Anna Burghardt

Desserts als Gaumenreinigung. Generell interessant ist in Seoul das Verhältnis zum Zucker: „Koreanisches Essen enthält recht viel Zucker, etwa in Fleischmarinaden“, sagt SungYoon Kim. „Desserts sind aber meist kaum süß und oft nur winzige Geleewürfel, sie dienen dazu, den Gaumen zu reinigen. Ein einfaches Dessert ist der braune Reistee Nurungji: Man macht ihn, indem man Wasser über die Reiskruste auf dem Topfboden leert.“ Einen Hype erleben in Seoul zurzeit Churros, die spanischen Spritzkrapfen mit Schokolade, und französische Pâtisserie hat einen hohen Stellenwert; es empfiehlt sich, zuzuschlagen, die Qualität der hier gefertigten Blätterteigröllchen oder Cannelés wird in Österreich nicht erreicht. In der Food-Hall des Kaufhauses Lotte (der Großkonzern ist nach Goethes Charlotte im „Werther“ benannt) reihen sich Törtchen von Fauchon und anderen Pariser Adressen aneinander, und in der Itaewon-ro, umgangssprachlich als „Comme des Garçons Street“ bezeichnet, findet man neben stilbildenden Concept-Stores und Third-Wave-Kaffeelokalen die Versuchsfiliale der Edelbäckerei Passion 5. Hier wird getestet, was der Markt verträgt. Da drehen sich in der Schaubäckerei etwa große Rollen Baumkuchen, darüber ein Schild: „Baumkuhen. Let’s Taste It!“

Versuchen muss man in Seoul natürlich auch Kimchi, das allgegenwärtige Nationalgericht Koreas. Meist wird dafür Chinakohl fermentiert, es gibt aber unzählige andere Versionen: Kimchi aus Bärlauchstielen, Wassermelonenschalen, Sesamblättern . . . „Bei Hochzeiten ist ein wichtiges Geschenk immer ein Kimchi-Kühlschrank“, erzählt man etwa in der Ongo-Kochschule, die nicht nur Kimchi-Kochkurse auf Englisch anbietet, sondern auch unterhaltsame Street-Food-Touren. So auch jene zum Living Octopus.

Tipps

Schaustück. Viele Lokale zeigen in der Auslage naturgetreue Kunststoffrepliken von Essen.

Momentaufnahmen. Ein etwas anderer Reiseführer durch Korea mit vielen popkulturellen Häppchen ist „Korea 151“ aus dem Conbook-Verlag.

Trendgetränk. Das milchige Reisbier Makgeolli, aus Blechschalen getrunken, erlebt gerade einen Hype.

Pâtisseriehimmel. Grandiose Pâtisserie in einer Qualität, wie sie in Österreich nicht zu finden ist, bietet das Passion 5 in der auch sonst spannenden Einkaufsstraße Itaewon-ro.

Essen kaufen. Hochspannend sind Märkte wie der Gwangjang-Markt, hier kann man an den Ständen auch essen, oder der Kräutermarkt Gyeongdong, wo man von Ginseng bis zu getrockenen Eidechsen alles Mögliche kaufen (oder anschauen) kann. Riesig, aber westlich ist die Auswahl in der Food-Hall des Kaufhauses Lotte, hier gibt es u. a. eine Mozzarella-Schaumanufaktur. Unbedingt besuchen muss man den Noryangjin-Fischmarkt, wo man sich Fische auch gleich zubereiten lassen kann.

Restaurants. Der „Guide Michelin“ wird heuer erstmals eine Seoul-Ausgabe herausgeben. Anwärter für Sterne sind etwa das Mingles, das Poom und das Jungsik. Empfehlenswert sind auch das Congdu, das traditionelle Doore und, hauptsächlich für die kalte Buchweizennudelsuppe Mul-naengmyeon, das Woo Lae Oak.

Kochkurse und nächtliche Street-Food-Touren bietet die Ongo Cooking School.

Hinweis: Die Autorin wurde von der Korea Tourism Organization unterstützt.

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