Syrien, Ukraine, Flüchtlinge: Ein Multiorganversagen

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Neue Krisen und Konflikte türmen sich schneller auf, als alte gelöst werden können. Dem Westen scheint die Gestaltungsmacht abhandenzukommen.

Sie ist ein riesiges Fieberthermometer mit Hunderten Sensoren: die jährliche Münchner Sicherheitskonferenz. Gemessen wird die Temperatur der Weltpolitik, und nach drei Tagen muss man feststellen: Dem Patienten geht es miserabel. Das äußere Symptom: In den vergangenen Jahren haben sich die Konflikte und Krisen viel schneller aufgetürmt, als es gelingt, sie zu lösen. Im Grunde genommen gelingt – vom Atomdeal mit dem Iran einmal abgesehen – überhaupt keine Konfliktlösung. Zum syrischen (Bürger-)Krieg kam 2014 der Krieg in der Ukraine, und als wäre das nicht genug, türmte sich 2015 noch die keineswegs ausschließlich mit Syrien zusammenhängende Flüchtlings- und Migrationskrise hinzu.

Appelle (vor allem innerhalb des Westens, sofern dieser Begriff noch angemessen ist), zusammenzustehen und die Probleme gemeinsam anzugehen, gehören zur Münchner Sicherheitskonferenz wie der Senf zur Weißwurst. Doch heuer hatten sie eine andere Qualität. Die Warnungen vor einem Zerbröseln der europäischen Einigung sind kein Gespenst mehr, mit dem man in einer Art Gruselpädagogik unfolgsame Kinder erschreckt. Nein, wenn Deutschlands Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen warnt, dass das Zukunftsversprechen, das Europa einst war, in Xenophobie und Nationalismus unterzugehen drohe, dann ist kein Wort davon übertrieben.

Wie um das zu beweisen, hat ausgerechnet Frankreichs Premier Manuel Valls in München einem gesamteuropäischen Verteilungsmodus für Flüchtlinge eine Absage erteilt. Ein Affront für die Gastgeber, eine Ohrfeige für jene Länder, die sich wie etwa Österreich für eine europäische Lösung einsetzen. Doch diese Lösung wird es so nicht geben. Bei allem Verständnis für französische Befindlichkeiten, aber dass hier ausgerechnet Paris eine Vorreiterrolle spielt, ist als Signal fatal: Man muss den viel zitierten deutsch-französischen Motor in der EU nicht überhöhen, doch wenn dieser Motor ausfällt – und das tut er gerade – und vielleicht, um im Bild zu bleiben, auch noch das britische Benzin qua Brexit ausgeht, ist das ein Totalschaden für Europa. Dabei wäre auch angesichts eines immer selbstbewussteren und aggressiveren Russlands innere Einigkeit so wichtig. Der Oberzyniker im Kreml und seine Hilfszyniker Dmitrij Medwedjew und Sergej Lawrow können sich die Hände reiben bei dem zerrütteten Bild, das die EU abgibt, deren Spaltung sie weiter nach Kräften anheizen. Und jeder Flüchtling, der es nach Europa schafft, nützt Putin und seinem Kalkül.


Der russische Präsident hat sein übergeordnetes Ziel bereits erreicht: Er hat Russland wieder zu einem Faktor gemacht, an dem man nicht vorbeikommt. Mit Waffengewalt unter Inkaufnahme Tausender Todesopfer – und, im Fall der Ukraine – mit einem Frontalangriff auf die europäische Nachkriegsordnung. Moskaus Vertreter sprechen schon von einem neuen Kalten Krieg, für den sie natürlich den Westen und dessen vorgebliche Vorurteile allein verantwortlich machen, ungeachtet der Tatsache, dass es kein westliches Land war, das sich einen Teil der Ukraine einverleibt hat und einen anderen seit zwei Jahren mit seinen Soldaten destabilisiert. Und nun klopft Russland scheinheilig an die Tür und fordert nach dem Motto „Seien wir doch wieder gut!“ Kooperation ein – unterstützt von einigen westlichen Politikern, die bereits einem Ende der Sanktionen das Wort reden. Zur Belohnung wofür genau?

Die Kernfrage stellte in München jemand, der sonst nicht für übertriebene Nachdenklichkeit bekannt ist: US-Senator John McCain. Er beklagte bitter den Verlust westlicher Gestaltungsmacht und das Zerstäuben der internationalen Ordnung, und er stellte die Frage in den Raum: „Sehen wir denn nicht, was hier passiert? Und interessiert es uns überhaupt?“ Immerhin tritt nach dem Münchner Fiebermessen die Diagnose, wie es um den Westen und das internationale Gefüge steht, klar zutage. Ein mageres Ergebnis für drei Tage gruppentherapeutische Sitzung – aber ein Anfang.

E-Mails an:helmar.dumbs@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2016)

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