Europas zerrissene Bande

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Mitten in einer politisch labilen Zeit ändern sich in der EU die Machtverhältnisse. Eigentlich könnte das eine große Chance sein.

Wenn Donald Trump morgen als 45. US-Präsident angelobt wird, ist keine Zeitenwende zu erwarten. Aber es beginnt für Europa eine labile, unsichere Phase. Die schwierige, aber verlässliche Partnerschaft mit den USA steht ebenso infrage wie unser gemeinsames Wirtschaftsmodell offener Märkte. Ein liberales, offenes Wertesystem steht infrage wie auch die Eckpfeiler der europäischen Sicherheitspolitik. Der Oxford-Politologe Jan Zielonka warnte diese Woche in einem Gespräch mit der „Presse“ davor, dass Trump „verheerende Folgen“ für Europa haben „könnte“. Er sagte bewusst „könnte“, denn niemand weiß heute, wie der neue US-Präsident tatsächlich handeln wird – zu widersprüchlich sind seine Äußerungen bisher.

Jedenfalls aber müssen sich die Europäer von der Verlässlichkeit ihrer alten Bande verabschieden. Und das ist nicht nur in Bezug auf die USA gemeint. Die Bande zereißen auch intern. Da ist die Front der marktliberalen Kräfte in der EU, die mit dem Ausscheren Großbritanniens aus dem Binnenmarkt ihren wichtigsten Mentor verlieren. Auch wenn da einige jubeln, da der Wirtschaftsliberalismus zweifellos übers Ziel geschossen hat, könnte dies die Basis unseres zweifelsfrei hohen Wohlstands auflösen. Denn die Gegenbewegung, die nationalem Protektionismus frönt, formiert sich schon. Und sie war – siehe zuletzt Venezuela – noch nirgendwo auf der Welt erfolgreich. Da ist aber auch die Nato, das vielfach kritisierte Sicherheitsbündnis zwischen Europa und den USA. Wenn Trump sie nun für „obsolet“ erklärt, „könnte“ das für Europa ein gefährliches Sicherheitsvakuum auslösen.

Prekär ist die Lage, weil sich in Europa gleichzeitig die internen Machtverhältnisse verändern. Jene Große Koalition – wie wir sie in Österreich jahrzehntelang erlebt und ertragen haben –, die verlässlich proeuropäisch, sozialmarktwirtschaftlich, rechtsstaatlich geprägt war, zerbricht auf dem ganzen Kontinent. Symptomatisch dafür war die Wahl des neuen Präsidenten des Europaparlaments, Antonio Tajani. Erstmals lag dieser Wahl keine Absprache zwischen Europäischer Volkspartei (EVP) und Sozialdemokraten (S&D) zugrunde. Der Forza-Italia-Mitbegründer Tajani wurde von der EVP, von liberalen und rechten Abgeordneten gewählt. Die Große Koalition auf europäischer Ebene, wie sie zuletzt durch den christdemokratischen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und den sozialdemokratischen Parlamentspräsidenten Martin Schulz repräsentiert war, löst sich auf. Die Folge „könnte“ eine langsame Abkehr vom gemeinsamen Europa, von der Tradition des gesellschaftlichen Ausgleichs sein. Denn was sich im europäischen Parlament abspielt, spiegelt nur Änderungen in zahlreichen Mitgliedsländern wider.

Wenn sich Machtverhältnisse verschieben, bedeutet das allerdings nicht nur ein Risiko, sondern in erster Linie eine Chance. Die sogenannte Große Koalition – ob auf nationaler oder europäischer Ebene – stand bereits seit Langem für starre, unflexible Verhältnisse, für Reformmüdigkeit und Intransparenz. So wie in vielen Mitgliedstaaten könnte auch den politischen Organen der Europäischen Union ein traditioneller parlamentarischer Zugang mit variierenden Mehrheiten durchaus guttun. Plötzlich müsste nicht nur auf zwei Gruppen Rücksicht genommen werden, sondern auf mehrere.


Das europäische Projekt „könnte“ also wieder auf die Basis einer größeren Bevölkerungsmehrheit gestellt werden. Das wäre durchaus positiv. Einzig: Dafür wäre auch eine neue Politikergeneration notwendig, die für klare Ideale und transparente Interessen steht – nicht eine, die sich nur noch an momentanen Stimmungen orientiert oder allein am Machterhalt interessiert ist.

Wenn Jean-Claude Juncker aufgrund öffentlichen Drucks plötzlich als Akteur für Steuergerechtigkeit auftritt, ist das vor dem Hintergrund seiner Luxemburger Vergangenheit eher unglaubwürdig. Wenn der Berlusconi-Gefährte und künftige EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani für Rechtsstaatlichkeit eintritt, ist das fast schon absurd. Ja, es „könnte“ auch eine große Chance sein. Aber schwerlich mit diesem Personal.

E-Mails an:wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.01.2017)

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