Literatur macht unbequem Genau deshalb brauchen wir sie

Einheitstexte für zentrale Prüfungen sind eine geistige Zwangsjacke. Sie laufen auf eine intellektuelle Verarmung hinaus, der man den Kampf ansagen muss.

In der Episode 13 der Fernsehserie „Twin Peaks“ erscheint der Schöpfer persönlich. Nicht Jesus ist es, sondern der Regisseur David Lynch. Cineasten sprechen von einem Cameo-Auftritt. Lynch spielt einen schwerhörigen FBI-Mann, der ein altmodisches Hörgerät trägt. In dieses müssen die Mitarbeiter ihre geheimen Untersuchungsergebnisse so laut brüllen, dass man sie noch im Nachbarzimmer hört.

Als ich neulich diese Szene sah – „Twin Peaks“ soll nach einer Pause von 25 Jahren fortgesetzt werden –, musste ich an den ersten Besuch in der bescheidenen Gemeindebücherei meines Heimatortes denken. Ich war sieben. Vor mir stand ein schwerhöriger alter Mann, der den Bücherschatz verwaltete. Von seinem Bauch baumelte das gleiche Hörgerät wie es David Lynch trug. Dort sollte ich meine Buchwünsche hineinbrüllen.

Man muss die Bestellung bis auf den Marktplatz gehört haben. Der Schwerhörige händigte mir Bücher aus. Von Karl May über Sven Hedin, Hans Dominik, Hugo Bernatzik bis zu Richard Billinger und Karl Springenschmid las ich auch viel Unkorrektes, das sich angesammelt hatte. Lesen veränderte mein Leben.

Vielleicht leide ich deshalb so, wenn mir Lehrerinnen und Lehrer von ihrem Kreuz mit der Leseförderung erzählen. Ja, ihre Schüler würden lesen, viel sogar, aber überwiegend im Sinn einer Twitter- und Facebook-Kommunikation. Bücher seien ein Minderheitenprogramm geworden. Die gute alte Literaturpflege sei – nicht zuletzt auf Wunsch mancher Eltern – dem Training von modernen Kommunikationstechniken gewichen. Die benötige man heute. Goethe weniger. Klassikerzitate könne man ja googeln, wenn man sie für eine Präsentation brauche.

Diese Entwicklung, auch jene hin zu einem Einheitstext für die Zentralmatura, ist eine kulturelle Verarmung. Unter dem Mantra der Vergleichbarkeit tritt anstelle der individuellen Leseförderung eine Massenveranstaltung. Alle 17- und 18-Jährigen des Landes sollen zum selben Zeitpunkt über ein und demselben – natürlich möglichst wenig anstößigen – Text brüten. Und das geschieht ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, an dem Bildungsverantwortliche kühn von einer „Individualisierung des Unterrichts“ reden.

Zufällig ist dieses Abrücken von der individuellen Leseförderung hin zu einer – letztlich totalitären – Einheitsprüfung nicht. Lesen macht nämlich unbequem. Menschen, die lesen, leben im Reich des Möglichkeitssinns. Sie entwickeln Fantasien und können sich Alternativen zur real existierenden Welt vorstellen.

Die individuelle Vertiefung in Bücher trägt immer den Keim der Auflehnung in sich: Karl Marx und Lenin saßen im Lesesaal des British Museum. Alle Diktaturen sehen in der unkontrollierten Lektüre eine Gefahr – Bücherverbrennungen sind nur der Ausdruck dieser Urangst. Häftlinge in Stalins wie Hitlers Gefängnissen kämpften um ihr geistiges Überleben, in dem sie Passagen aus Büchern memorierten. In der „Farm der Tiere“ halten die Schweine alle anderen Tiere von Büchern fern. „Fahrenheit 451“ – der Film ist unvergesslich – bezeichnet jene Temperatur, bei der Papier Feuer fängt und Diktaturen Bücher verbrennen.

Niemand hat die Furcht des Obrigkeitsstaates vor Büchern besser beschrieben als Heinrich Heine. In „Deutschland. Ein Wintermärchen“ suchen preußische Grenzsoldaten im Schnappsack des aus Frankreich zurückkehrenden Dichters nach unerwünschten Büchern. Der spottet nur: „Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht! Hier werdet ihr nichts entdecken. Die Konterbande, die ihr sucht, die hab ich im Kopfe stecken. Hier hab ich Spitzen, die feiner sind als die von Brüssel und Mecheln, und pack ich erst meine Spitzen aus, sie werden euch sticheln und hecheln. Und viele Bücher trag ich im Kopf! Ich darf es euch versichern, mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest von konfiszierlichen Büchern.“

Wer Literatur liebt, kann Einheitstexte für alle nur ablehnen. Sie sind eine geistige Verarmung, der man den Kampf ansagen muss.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2014)

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