Amokfahrt als „Botschaft an die verhasste Gesellschaft“

Verteidigerin Liane Hirschbrich (links) und der Sachverständige Jürgen Müller
Verteidigerin Liane Hirschbrich (links) und der Sachverständige Jürgen Müller APA/ERWIN SCHERIAU/APA-POOL
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Der siebente Tag im Grazer Amokfahrer-Prozess geriet zur erwarteten Gutachter-Schlacht. Am Donnerstag ergeht das Urteil.

Graz. Das Publikumsinteresse war größer als die Tage zuvor. Eine gewisse Nervosität lag in der Luft. Allen war klar: Der Gutachter, der seine Ergebnisse am besten darstellt, oder anders gesagt, der Gutachter, der am ehesten die Sprache der Geschworenen spricht, gibt am Ende den Ausschlag.

Namentlich ging es also am siebten Tag im Grazer Amokfahrer-Prozess darum, ob der an der Universität Göttingen (Niedersachsen) tätige forensische Psychiater Jürgen Müller oder der ebenfalls auf Psychiatrie spezialisierte Grazer Uni-Professor Manfred Walzl überzeugender ist. Müller meint, der Amokfahrer Alen R. – er tötete am 20. Juni 2015 drei Menschen und verletzte Dutzende Menschen zum Teil schwer – sei nicht zurechnungsfähig. Walzl widerspricht dem.

Müller war, wie berichtet, als Obergutachter beigezogen worden, nachdem auch sein Berufskollege Peter Hofmann aus Graz dem Amokfahrer paranoide Schizophrenie und damit Zurechnungsunfähigkeit attestiert hatte.
Folgen die acht Geschworenen (Laienrichter) dem Müller-Gutachten (so wie die Staatsanwaltschaft dies tut), dann muss R. (sofern er als gefährlich eingestuft wird) „nur“ in eine geschlossene psychiatrische Anstalt. Dort wird er dann so lange untergebracht, bis er als geheilt gilt.

Meinen die Geschworenen, dass R. das Unrecht seiner Tat einsehen konnte und sich dementsprechend verhalten hätte können, so droht dem Mann, der sich zuletzt als Autohändler versucht hatte, bis zu lebenslange Haft.

Drei Wahnideen

Wie Müller nun ausführte, seien drei Wahnideen am 20. Juni ausschlaggebend gewesen: Schüsse, die R. sich einbildete, Angst vor Verfolgern und das Gefühl, bei der Polizei sicher zu sein (zur Erinnerung: der Amokfahrer hatte sich letztlich vor einem Polizei-Wachzimmer festnehmen lassen). Es liege ein „absoluter Wahn“ und damit eine Geisteskrankheit vor. Und weiter: „Das Bild erfüllt die internationalen Kriterien für Schizophrenie.“ Der „akut dekompensierte Wahn, die akute Psychose“ würden die Zurechnungsunfähigkeit begründen, so Müller. R. habe gemeint: „Ich muss zur Polizei fahren, da bin ich in Sicherheit.“

Eine beisitzende Richterin fragte, wieso R. gezielt auf Menschen zugefahren sei. Müller: „Er hat sie als Verfolger gesehen und wollte die Leute für die Polizei festsetzen.“ Warum er nicht einfach geflüchtet sei, hakte der vorsitzende Richter Andreas Rom nach und fügte an: „Das ist für mich nicht nachvollziehbar.“ Müller: „Für mich ist das Ganze nicht nachvollziehbar.“ Dann erklärte der Gutachter: „Das Kriterium eines Wahns ist, dass der Patient unumstößlich daran glaubt, dass es so ist.“ – „Das glaubt mein Mann auch manchmal“, warf eine Geschworene ein. Lachen im Saal.

Danach hatte Gutachter Walzl seinen Auftritt: R. sei „eine abhängige Persönlichkeit“. Und: „Er fühlt sich alleine unwohl. Einer der häufigsten Sätze, die er zu mir gesagt hat, war: ,Ich brauche meine Mutter, damit sie mich pflegt.‘“ Auch erinnerte Walzl an die auf Video aufgezeichnete erste Einvernahme von R. Damals sagte dieser: „Wenn man behandelt wird, wie ein Hund . . . In Österreich ist es jedem egal, wenn man verfolgt wird, da muss man sich ja selbst verteidigen.“
Walzl interpretierte dies nun so: „Du, Stadt Graz, bist schuld, dass es mir so schlecht geht.“ Daraus folge: „Hass, Wut und Rachegedanken vereinen sich mit dem Wunsch, Bedeutung und Berühmtheit zu erlangen.“

„Hohe Gekränktheit“

Auch die von Walzl zugezogene Psychologin Anita Raiger hält in ihrem Gutachten eine „kombinierte Persönlichkeitsstörung“ fest. Demnach habe R. jahrelang eine „individuelle Unzufriedenheit, gepaart mit hoher Gekränktheit sowie eine gefühlte Demütigung und Missachtung seiner Person und Männlichkeit“ empfunden. So sei es zur „Inszenierung der Amokfahrt“ gekommen, die Tat an sich stelle „eine Botschaft an die verhasste Gesellschaft dar“.

Walzl an die Geschworenen gewandt: „Der Wahn kann bei der Schizophrenie zum tatbestimmenden Merkmal werden. Der Unterschied zur Persönlichkeitsstörung besteht darin, dass der Patient ein viel zu enges Korsett hat, um sich darin bewegen zu können. Bei der Persönlichkeitsstörung wird der Wahn als Rechtfertigung der Tat im Nachhinein angegeben.“

Fazit: „Ich bin der Meinung, dass bei Herrn R. eine Persönlichkeitsstörung vorliegt. Herr R. hat eine absolut unselbstständige Lebensführung, er hat Minderwertigkeitskomplexe, er zeigt eine absolute Dramatisierung der eigenen Person im Sinne seiner Rückenschmerzen. Aus meiner Sicht war die Zurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt gegeben.“
In einem Punkt sind sich alle drei Psychiater einig: R. sei gefährlich, es sei anzunehmen, dass er zu weiteren Gewalttaten neige. Das Urteil ergeht am Donnerstag.

''Presse''-Liveticker

Der Prozess wird am Donnerstag um 9 Uhr fortgesetzt. Dann soll es auch eine Entscheidung der Geschworenen geben. Wir berichten ab 9 Uhr live aus dem Grazer Straflandesgericht.

Bisherige Berichte, Analysen und Liveticker zum Prozess finden Sie unter diepresse.com/amokfahrt

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29. September 2016)

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