Polen: „Es ist cool, in Warschau Jude zu sein“

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Wo Millionen Menschen einst unfassbaren Schmerz und Leid erfuhren, prosperiert heute das jüdische Leben. Zur Renaissance trägt auch das sehenswerte Museum Polin in Warschau bei.

Warschau/Krakau. „Mir zeynen do (Wir sind da)“, heißt es in einem jüdischen Partisanenlied. Und es trifft zu: Juden erleben derzeit in Polen eine Renaissance. „In der Gegenwart sind polnische Juden stolz auf ihre Identität. Sie fürchten sich nicht mehr“, sagt Jakub Nowakowski, Direktor des Jüdischen Museums Galizien, in Krakau. Einen Teil zum Revival trägt auch das steigende Interesse der Mehrheitsbevölkerung bei, sich mit der Vergangenheit zu befassen.

Ein „Game Changer“ soll das Museum der Geschichte der polnischen Juden (Polin) in Warschau sein. Vor Kurzem wurde das Herzstück von Polin (Hebräisch für Polen bzw. „Hier kannst du ruhen“), die Dauerausstellung, eröffnet. Das weltweit größte jüdische Museum soll ca. 75 Millionen Euro gekostet haben (die Kosten für die Ausstellung mitgerechnet). Es steht symbolisch auf den Ruinen des 1940 errichteten Ghettos. Vor den Gräueltaten der deutschen Nationalsozialisten blühte das jüdische Leben in der Metropole an der Weichsel. Hier war mit rund 360.000 Menschen – einem Drittel der Warschauer Bevölkerung – die größte jüdische Gemeinde weltweit zu Hause. Insgesamt lebten vor dem Holocaust rund 3,5 Millionen Juden in Polen. 90 Prozent starben.

Auch die polnische Geschichte hat dunkle Kapitel. Beispielsweise das Massaker von Jedwabne 1941 und nach dem Krieg, beim Pogrom in Kielce 1946. Auch 1968 war ein Jahr der Schande. Das kommunistische Regime gab Juden die Hauptschuld an den März-Unruhen. 30.000 wurden ausgebürgert. Nur wenige blieben. Eine davon war Gołda Tencer. Sie leitet das jüdische Theater am Warschauer Grzybowski-Platz – nur wenige Meter von der einzigen nicht im Krieg zerstörten orthodoxen Synagoge (Nozyk-Synagoge) entfernt. Als eine der wenigen jüdischen Einrichtungen musste die Synagoge nicht nach 1968 schließen. Die Veranstaltungen boomen heute. Vor allem Polen kommen zu den Vorstellungen, die meist in Jiddisch aufgeführt werden. Hinter dem Theater steht die Fundacja Shalom, die auch für das „Singer“-Festival zuständig ist. Heuer kamen 35.000 Gäste, viele aus dem Ausland, zum jüdischen Festival.

Davidstern im Mode-Kontext

International machte sich auch die Modedesignerin Antonina Samecka einen Namen. Für ihre Kollektion „Risk Oy“ verwendet die 31-Jährige Symbole wie den Davidstern und setzt sie in einen modernen Kontext. „Gerade in den USA waren die Menschen überrascht, dass Juden hier sicher sind. Dabei ist es so: In Warschau Jude zu sein, ist wie in Brooklyn. Einst war es gefährlich, nun ist es cool.“ Als Kind hat sie noch den Rat von ihrer Großmutter erhalten, eine in Israel gekaufte Halskette mit einem Davidstern in Polen lieber nicht zu tragen. Die Zeiten haben sich geändert. Wie beurteilt die Designerin das Museum: „Ich glaube, dass die Diskussion und Konflikte vor der Eröffnung sehr fruchtbar waren.“ Samecka spricht die kontrovers geführte Debatte über den Inhalt der Ausstellung an: das dargestellte Verhältnis zwischen Polen und Juden sowie die dunklen Kapitel vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ausgespart werden diese nicht.

„Wir sagen den Menschen nicht, wie sie die Ausstellung verstehen sollen. Es ist ein offenes Narrativ“, so Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Direktorin der Dauerausstellung. In acht Kapiteln geht der Besucher auf eine faszinierende zweistündige Reise durch die rund 1000-jährige Geschichte polnischer Juden. Sie umfasst die Blütezeit des Judentums (1569–1648), aber auch den Genozid im 20. Jahrhundert. „Wir sind kein Holocaust-Museum. Es ist ein Museum des Lebens“, hält Kirshenblatt-Gimblett fest.

Der Soziologe und Direktor des Jüdischen Historischen Instituts, Paweł Śpiewak, hebt die Bedeutung von Polin in fast poetischen Worten hervor: „Es wird dazu beitragen, dass das Jüdische nicht nur Mode bleibt, sondern tief in der polnischen Seele Wurzeln schlägt.“

Krakau: Blühender Tourismus

Aber wie viele Juden leben eigentlich in Polen? Eine genaue Antwort auf diese Frage bekommt man nicht. 10.000 seien es sicher, es könnten auch 30.000 sein, schätzt Agnieszka Markiewicz, Direktorin des Forums des Dialogs zwischen Nationen. Sie konstatiert ein Coming-out-Revival in ihrer Heimat: „Viele Junge erforschen ihre Wurzeln.“ Die Organisation hat sich die Bewusstseinsbildung junger Menschen zur Aufgabe gemacht. Sie will gegen Stereotype ankämpfen, dafür besucht man Schulen, auch in weniger dicht besiedelten Gebieten: „Schüler wissen häufig nicht, dass es auch in ihrem Ort ein Ghetto gab“, erzählt Markiewicz.

Die Vergangenheit ihrer Vorfahren in Polen erforschen jährlich auch viele Menschen aus Israel. Das Museum Auschwitz-Birkenau besuchten im Vorjahr 57.000 Israelis. Ihre meist rund einwöchige Reise umfasst neben der Gedenkstätte auch Krakau. Besonders beliebt ist dabei der Stadtteil Kazimierz – vor dem Krieg der florierende jüdische Bezirk. Noch vor 20 Jahren gehörte Kazimierz zu den gefährlicheren Gegenden der Stadt, erzählt Museumsdirektor Jakub Nowakowski. Mit den Jahren wurde es hier kommerzieller. Touristen kommen in Scharen, etwa wegen der Klezmer-Konzerte und des Gefilten Fischs. Kazimierz ist auch das Zentrum der Jungen und Kreativen, die sich beim Jewish Community Centre oder in den zahlreichen Bars und Clubs treffen. Nowakowski: „Natürlich ist Kazimierz touristisch geworden. Ich sehe da überhaupt nichts Schlechtes. Schmerz und Leid hat es hier lang genug gegeben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2014)

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