Am Freitag hat der Prozess gegen Sanel M. begonnen: Er soll die Studentin Tuğçe A. geschlagen haben – sie starb an den Folgen. Der Fall hat eine Debatte über Zivilcourage entfacht.
Berlin/Darmstadt. „Nur“ eine Ohrfeige – das habe der 18-jährige Sanel M. der Studentin Tuğçe A. verpassen wollen, als diese auf dem Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants in Offenbach die Belästigung zweier Mädchen (13, 14) verhindern wollte. Sanel M. und ein weiterer Mann sollen die Mädchen bedrängt haben, Tuğçe A. zeigte Zivilcourage und schritt ein. Die Ohrfeige, die ihr M. dafür verpasste, sollte tödlich enden: A. schlug mit dem Kopf auf den harten Boden auf, fiel ins Koma, zwei Wochen später war sie tot. Etwa fünf Monate nach der Tat begann am Freitag in Darmstadt der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter M.
Vor Gericht gab er tränenreich zu, die Deutschtürkin Tuğçe A. geschlagen zu haben. Es tue ihm „unendlich leid“, so M., und: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, was ich der Familie für Leid und Schmerzen angetan habe.“ Er habe „niemals“ mit dem Tod der Studentin gerechnet. Seit dem Vorfall in Offenbach sitzt M. in Untersuchungshaft, er wird wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt. Ihm drohen bis zu zehn Jahre Haft.
Tuğçes Familie tritt bei dem Prozess als Nebenklägerin auf: Die Eltern sowie zwei Brüder waren am Freitag auch im Gerichtssaal zugegen. Der Tod seiner Schwester habe die Familie „total aus der Bahn geworfen“, so der jüngere Brüder am Freitag. Die Schockstarre sei zwar vorüber, aber: „Wir sind jetzt in der Realisierungsphase. Die ist noch schlimmer.“ Ihr Bruder beschrieb Tuğçe als lebenslustig und hilfsbereit. Sie habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn gehabt. Die 22-Jährige – an ihrem 23. Geburtstag und nach Feststellung eines Hirntods wurden die lebenserhaltenden Apparate ausgeschaltet – studierte Deutsch und Ethik auf Lehramt in Gießen.
„Floskelhafte Sätze“
Verwandte und Freunde sowie die Großeltern von Tuğçe A. wollten am Freitag den Gerichtssaal mit T-Shirts betreten, worauf ihr Konterfei gedruckt war. Das Gericht hat die T-Shirts allerdings verboten – aus Angst vor Provokationen, wie es hieß. Die Großeltern mussten daraufhin ihre Jacken schließen. Am ersten Tag des Prozesses hat das Gericht zwei Zeugen – die beiden Mädchen, die von M. bedrängt worden waren – von rund 60 vernommen (nicht öffentlich), zudem meldete sich auch Tuğçes Vater zu Wort.
Der Anwalt der Familie A., Macit Karaahmetoğlu, zweifelte unterdessen an der Aufrichtigkeit von Sanel M.s Aussage: „Es waren floskelhafte Sätze.“ Für Oberstaatsanwalt Alexander Homm hingegen war die Aussage von „erkennbarer Reue geprägt“. Den Prozess leitet im Übrigen Jens Aßling, der als streng und unbeeinflussbar gilt. Aßling hat unter anderem den großen Kinderpornografieprozess im Jahr 2011 geleitet, bei dem neun Männer angeklagt waren.
Das Interesse am Prozess – insgesamt zehn Tage sind dafür angesetzt worden – war am Freitag groß: Nicht alle Medienvertreter bekamen einen Platz. Vor dem Gericht fand zudem eine Mahnwache statt, wobei die Teilnehmer an Tuğçe und ihre Zivilcourage erinnern wollten. Der Tod der Studentin hat europaweit für Betroffenheit gesorgt und eine Debatte über Zivilcourage sowie Kriminalität unter Jugendlichen entfacht. Internationale Medien bis hin zur „New York Times“ berichteten über den Vorfall, insbesondere auch türkische Medien.
Fataler Ohrschmuck
Beim Tathergang auf dem Parkplatz soll es verschiedenen Medienberichten zufolge zu einem heftigen Wortwechsel und zu Beschimpfungen zwischen A. und M. gekommen sein. Zu der tödlichen Verletzung soll der Ohrschmuck beigetragen haben, den Tuğçe trug, und der sich beim Aufprall in den Schädel gebohrt haben soll. Vor Gericht wurden am Freitag auch zwei Überwachungsvideos gezeigt, die die Tat festhielten.
Bereits viermal geriet Sanel M., Sohn serbischer Einwanderer, mit dem Gesetz in Konflikt – unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung. So war er etwa vor zwei Jahren bereits in Jugendarrest. Diese früheren Delikte dürften sich negativ auf den Ausgang des aktuellen Prozesses auswirken.
M. wuchs in Offenbach auf, wo er auch die Schule besuchte. Bevor er mit kriminellen Taten auffiel, soll M. das Gymnasium besucht haben und galt als guter Schüler.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)