"Tschechien den Tschechen, Zigeuner ins Gas!"

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Symbolbild(c) AP (JAN BAUER)
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In Nordböhmen arten soziale Probleme in Gewalt aus. Rechtsradikale machen gegen Roma mobil. Einheimischen stimmen ein. An jedem Wochenende droht der Protest zu eskalieren. Hinter den Demos steht Hilflosigkeit.

Prag. Im Schluckenauer Zipfel geht die Wut um. Das Gebiet, das einst als Zentrum der Textilindustrie „nordböhmisches Manchester“ hieß, ist in den vergangenen Wochen zum Brandherd geworden. Alteingesessene Tschechen wollen zugezogene Roma loswerden, denen sie Kriminalität vorwerfen. An jedem Wochenende droht der Protest zu eskalieren. Demonstrationen von extra aus Prag und anderswo angereisten Rechtsradikalen enden mit Märschen zu den Behausungen der Roma. „Tschechien den Tschechen, Zigeuner ins Gas!“ brüllen die Kahlköpfe. Und manche der Einheimischen, die sich von der Politik in Prag alleingelassen fühlen, stimmen ein.

„Sozial Unangepasste“

Hinter den Protesten steht Hilflosigkeit. Die Arbeitslosigkeit in der Region liegt bei 20 Prozent, wer weg kann, geht weg. Andere kommen dagegen zuhauf: die „sozial Unangepassten“, wie es neu-tschechisch heißt. Ein Begriff, der seit Kurzem das politisch korrekte Wort „Roma“ ersetzt.

Die zugezogenen Roma lebten vormals in tschechischen Kleinstädten, meist im attraktiven Speckgürtel von Prag. Immobilienhaie sind scharf auf deren Wohnungen und kaufen sie auf. Den Roma erlassen sie die angehäuften Mietschulden und verfrachten sie in den Schluckenauer Zipfel.

Für die Roma ist der Umzug zunächst attraktiv. Sie sind nämlich nicht nur ihre Schulden los, sondern leben im neuen Zuhause auch noch ein paar Monate mietfrei. Die erste Rechnung danach aber ist ernüchternd: Für ihre Bruchbuden sind exorbitante Mieten fällig. Arbeit, um diese bezahlen zu können, finden sie nicht. „Die Roma geraten in einen Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt“, sagt der Soziologe Ivan Gabal, der sich seit Jahren dem Thema widmet. Mit dem organisierten Zuzug der Roma ist folglich die Kriminalität gewachsen. Als 20 Roma, mit Macheten bewaffnet, sechs „weiße“ Tschechen in einer Disco angriffen, war das Maß voll. Seither wird demonstriert.

Die Regierung versucht, das Problem mit Investitionen in Bildung zu entschärfen. Für alle tschechischen Kinder soll von 2015 an die Schulpflicht von neun auf zehn Jahre erweitert werden, damit sich die Chancen auf einen ordentlichen Beruf erhöhen. Roma-Familien, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken, sollen den Anspruch auf Sozialhilfe verlieren. Das liest sich gut, geht aber an der Realität vorbei. Die Roma-Kinder brauchen nämlich eher ein Vorschuljahr, um erst einmal richtig Tschechisch zu lernen, das eine Fremdsprache für sie ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2011)

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