Ostukraine: "Europa ist schlecht für euch"

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Ukrainian airborne brigade stationed near Slavyansk PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY 61388640(c) imago/ITAR-TASS (imago stock&people)
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Die Milizen der ostukrainischen Stadt Slawjansk denken nicht daran, die Barrikaden zu räumen. Die prorussischen Aktivisten fordern, so wie auf der Krim ein Referendum über die Zukunft des Gebiets abzuhalten.

"Referendum! Referendum!", skandieren die Demonstranten. An die 1000 Menschen sind zur Kundgebung auf dem zentralen Platz der Oktoberrevolution in der ostukrainischen Slawjansk gekommen. Beim Lenin-Denkmal, vor der seit einer Woche durch prorussische Kräfte besetzten Stadtverwaltung, steht ein blauer Lada. Auf der Motorhaube sind Hammer und Sichel aufgemalt, Lautsprecher sind auf dem Dach fixiert. Mehrere Redner ergreifen das Wort, flankiert von zwei maskierten Bewaffneten. Der schlechten Qualität der Lautsprecher wegen hallen ihre Worte nur undeutlich über den Platz.

Es geht um die Entscheidung der Separatisten in der Ostukraine, die besetzten Gebäude nicht zu räumen und ihre Waffen nicht abzugeben. Aus der Menge wird Zustimmung laut. Noch lauter sind allerdings die Rufe nach einem konkreten Datum für ein Referendum und danach, über welche Fragen dabei überhaupt abgestimmt werden soll. Konkrete Antworten darauf sind von den Rednern jedoch nicht zu bekommen, die Menge reagiert mit Spott und Kritik. Dann tauchen hinter den Sandsäcken plötzlich drei maskierte Bewaffnete in Tarnanzügen auf, die Fäuste siegessicher in die Luft gestreckt. Die Demonstranten klatschen.

„Europa ist schlecht für euch!“, ruft eine ältere Rednerin, die sich als Einwohnerin Slawjansks vorstellt. Man sehe ja, wie schlecht es Ländern wie Griechenland und Italien gehe, die bei der EU seien. Aus dem Osten der Ukraine soll es künftig kein Geld mehr für Kiew geben. Die Region Donbass genüge sich selbst, Entscheidungen der Kiewer Junta würden nicht akzeptiert. Dies wird mit den Rufen „Rossija! Rossija!“ (Russland!) beklatscht. Für die anwesenden Fotografen wird daneben eine riesige schwarz-blau-rote Flagge der Anfang April ausgerufenen Volksrepublik Donetsk ausgebreitet. Die beiden jungen Männer in Trainingsanzügen, die die Flagge halten, sind sichallerdings nicht einigdarüber, wie man sie richtig hält. Mehrere Male wenden sie die Flagge hin und her, bis der schwarze Teil, wie es sich gehört, endlich oben ist.

Kinder spielen vor Barrikaden. Seit prorussische Kräfte zentrale Gebäude und Straßen von Slawjansk besetzten und Panzer mit russischen Fahnen einrollten, erlangte die verschlafen wirkende Stadt, 170 Kilometer südöstlich von Charkiw gelegen, internationale Berühmtheit. „Sogar in Afrika wissen sie nun, wo Slawjansk liegt“, sagt eine Pensionistin, die den Reden auf dem Platz lauscht, mit hörbarem Stolz in der Stimme zu ihrer Freundin. In den Stunden zuvor bot der große Platz ein friedliches Bild. Kinder spielten, ihre Mütter saßen daneben bei einem Schwatz beisammen, Pensionisten füttern die Tauben. Kurz: Man genießt die milde Frühlingssonne. Einzig die im Stadtzentrum errichteten Barrikaden und die maskierten Bewaffneten in grüner Camouflage, die durch die Stadt patrouillieren, erinnern daran, dass die 115.000 Einwohner zählende Provinzstadt in den vergangenen Tagen zu einem der Zentren der Krise in der Ostukraine geworden ist.

„Bei uns ist das eine Familienangelegenheit. Die Väter bewachen die Barrikaden, während die Kinder davor spielen“, erklärt eine Passantin. „Heute sind es aber doch bedeutend weniger Leute als noch am vergangenen Wochenende“, sagt Anatoli, der vor der besetzten Polizeiwache stehen bleibt und das Treiben verfolgt. Am 12. April haben mit Sturmgewehren bewaffnete Männer unter anderem das Gebäude der Stadtverwaltung sowie das Gebäude der Polizei und des Inlandgeheimdienstes SBU besetzt. Anfang der Woche wurde dann ein Koordinationsrat für die Stadt Slawjansk gewählt. Die Lenin-Straße, in der der Eingang zum Polizeigebäude liegt, ist mit Sandsäcken und Autoreifen versperrt. Neben der russischen Trikolore sind die schwarz-blau-rote-Flagge der Donetsker Volksrepublik sowie das Wappen der Volksmiliz Donbass, einer bewaffneten pro-russischen Gruppierung, zu sehen.

„Stoppt den kulturellen Genozid!“ Auf der Straße davor stehen leere Metallfässer, daneben ist Holz aufgeschichtet. Bretter dienen als improvisierte Bänke, auffallend viele junge Frauen befinden sich unter den hier versammelten Menschen. Martialisch klingende russische Rockmusik ertönt. Auf Spruchbändern heißt es: „Stoppt den kulturellen Genozid“, „Weg mit der Junta in Kiew, Gott ist mit uns“. Die Einwohner Slawjansks spazieren daran vorbei, einige fotografieren einander mit ihren Handys vor den Barrikaden. Ein Vater hebt seinen Sohn hoch und setzt ihn auf die Sandsäcke.

Auch Lilja spaziert vorbei. Angst vor den maskierten Männern habe sie keine, sagt sie. Das seien doch alles gute Leute, alle von hier. „Wir wollen ein Referendum“, sagt die ältere Frau, die mit ihrer Nichte, Enkelin und Urenkelin unterwegs ist. Ihr Wunsch sei die Unabhängigkeit von Kiew. Das sei nicht ihre Regierung, ihr werde verboten, Russisch zu sprechen. Vieles an ihren Argumenten erinnert daran, was auf der Halbinsel Krim vor dem Referendum zu hören gewesen war.

Der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow habe angedroht, während der Antiterroroperation in der Ostukraine, Slawjansk dem Erdboden gleichzumachen, behauptet Lilja. Die Menschen in der Stadt seien friedliche Leute. „Wir waren immer Grubenarbeiter hier im Donbass“, erzählt Lilja. Dort im Westen der Ukraine würden die Leute sie dagegen für Sklaven halten. „Wir haben hier kein Geld und keine Arbeit.“ Auf der Krim gehe es den Leuten nach dem Beitritt zu Russland nun besser, sagt sie. „Ich will auch zu Russland!“

Ob das Gebiet so wie die Krim Russland beitreten soll – darüber herrscht in Slawjansk keine Einigkeit. Kleinster gemeinsamer Nenner scheint das angekündigte Referendum zu sein. „Gefragt wird, ob die Ukraine künftig föderalisiert oder ob der bisherige Zentralstaat beibehalten werden soll“, sagt Anatoli Petrowitsch Chmelewoj, Abgeordneter und Vorsitzender des Koordinationsrats der Stadt. Einen Beitritt zu Russland könne Slawjansk allein nicht entscheiden, ein solcher Entscheid müsse auf der Ebene der gesamten Region Donetsk erfolgen. Die derzeitige Koordination zwischen den Städten in der Ostukraine sei jedoch schlecht, berichtet er. Die sich überschlagenden Ereignisse der vergangenen Tage hätten dies verhindert.


Bürgermeisterin wird festgehalten. Derzeit arbeitet die Stadtverwaltung nicht. Seit die Bewaffneten das Gebäude besetzt halten, sind die Beamten weggeblieben. Auf die Frage nach dem Verbleib der Bürgermeisterin, Nelja Schtepa, zeigt Chmelewoj in Richtung der besetzten Stadtverwaltung. „Sie befindet sich in dem Gebäude und darf es nicht verlassen“, sagt er und beeilt sich aber hinzuzufügen, dass mit ihr alles in Ordnung sei. Familie und Verwandte hätten sie bereits besucht.

Vor allem die Sicherheit in der Stadt müsste künftig verbessert werden, sagt er. Leute beklagten Probleme mit den Banken. Das liege daran, dass diese sich fürchten, große Summen Bargeld hierherzubringen. Der Wunsch nach Sicherheit und einer guten materiellen Zukunft für die eigenen Kinder ist dieser Tage in Slawjansk oft zu hören. Die Stadt wirkt arm, kaum ein neues Gebäude steht im Zentrum.

Die Menschen beschweren sich über die Preise für Benzin und Lebensmittel, die seit dem Sturz der Regierung Janukowitsch gestiegen sind.

„Hier sind keine russischen Soldaten.“
„Das Essen für die Männer auf den Barrikaden bezahlen wir aus unserer eigenen Tasche“, sagt Maja und zeigt auf Personen, die am verbarrikadierten Eingang der Stadtverwaltung maskierten Bewaffneten Kisten mit Lebensmitteln übergeben. Die stark geschminkte ältere Frau trägt an der Jacke ein St.-Georg-Band und einen Zettel mit dem Wappen der Volksmiliz Donbass, beides Abzeichen der prorussischen Separatisten. Russische Soldaten gebe es keine in Slawjansk, obwohl sie Moskau darum bitten würde. Einzig zum Schutz des Heimatlandes seien sie auf die Barrikaden gegangen, beteuert sie.

Als eine Passantin sich zum ukrainischen Staat bekennt, die Besatzer als Alkoholiker und Drogensüchtige beschimpft und sich nicht zum Schweigen bringen lassen will, wird Maja dies zu viel. Sie bittet die Journalisten, doch auf die andere Seite des Eingangs der Stadtverwaltung zu gehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2014)

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