Ukraine: Wahlkampf am Rand des Krieges

A combination photo shows pre-election posters as they are seen on the streets of Kiev
A combination photo shows pre-election posters as they are seen on the streets of KievREUTERS
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Die krisengeschüttelte Ukraine wählt heute ein neues Parlament. Dem früheren Donezker Gouverneur Serhij Taruta dürfte ein Mandat sicher sein.

Eine Wagenkolonne macht vor dem Jugendkulturpalast im Zentrum von Mariupol halt. Der 59-jährige Oligarch Serhij Taruta, der einst als Manager in der ostukrainischen Metallindustrie reich geworden und zuletzt als Feindbild prorussischer Rebellen massiv an Vermögen verloren hat, steigt aus seiner Limousine. Gleichzeitig springt eine Handvoll Bodyguards aus den Begleitfahrzeugen – bewaffnet mit Maschinengewehren sichern sie die Straße.

Von Anfang März 2014 bis vor zwei Wochen war Taruta noch einflussreicher Gouverneur der Region Donezk gewesen. Seit er von Präsident Petro Poroschenko gefeuert wurde, dem Anschein nach in durchaus beiderseitigem Einverständnis, ist sein Terminkalender nicht dünner geworden: Er möchte mit den heutigen Parlamentswahlen in die Werchowna Rada in Kiew einziehen. Als unabhängiger Kandidat strebt er ein Direktmandat im Wahlkreis 58 der Region Donezk an. Knapp 200 der 450 Parlamentssitze werden von Direktkandidaten besetzt, die restlichen Mandatare von Parteilisten gestellt. In Umfragen liegt der Block von Präsident Petro Poroschenko klar vorn. Doch die Direktkandidaten haben ein nicht zu unterschätzendes Gewicht: In der Vergangenheit gliederten sich viele von ihnen in die Machtvertikale von Expräsident Viktor Janukowitsch ein. Die künftige Loyalität der Unabhängigen ist kaum vorhersehbar, so auch Tarutas. Seine omnipräsenten Plakate positionieren ihn als smarten Brillenträger mit der Botschaft „Unser Mann in Kiew“. Er eilt von einem Auftritt zum nächsten.

An diesem Vormittag steht ein Treffen mit Sozialarbeitern auf dem Programm. Die Fragen drehen sich zunächst um Sozialleistungen, um den teuren öffentlichen Verkehr, aber auch um die Versorgung von Flüchtlingen, die aus den von den Separatisten kontrollierten Gebieten nach Mariupol geflohen sind. Taruta antwortet freundlich, er verspricht nichts und kritisiert die Verantwortlichen in Kiew, die viele Probleme seiner Region in den letzten Monaten nicht gelöst hätten. Sein informelles Auftreten erinnert hingegen eher an einen hochprofessionellen Wahlkampf in Westeuropa oder den USA.

Im Jugendkulturpalast wird schließlich aber auch das wichtigste Thema angesprochen. Ihre „Babuschkas“, so berichtet eine Altenbetreuerin, beschäftige derzeit vor allem eines: Kommt der Krieg zurück und wird die Stadt erobert? „Nein, selbst wenn es die Aufständischen wollten – unsere Stadt werden sie nicht einnehmen. Sie ist sicher“, beruhigt Taruta.

Umkämpftes Mariupol. Nicht erst seit Rebellenchef Aleksandr Sachartschenko am Donnerstag verkündet hat, die strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol einnehmen zu wollen, steht hier die Frage von Krieg und Frieden im Vordergrund: Im August hat die Einnahme der Stadt durch prorussische Freischärler gedroht, die Frontlinie liegt etwa 20 Kilometer östlich. In einem östlichen Vorort gab es in der Vorwoche Tote bei einem Granatbeschuss. In manchen russischen Medien wird gar ein Aufstand in Mariupol angekündigt. Freilich fehlen die Indizien. Hinter vorgehaltener Hand wird jedoch erzählt, dass die in und um Mariupol stationierten Angehörige ukrainischer Freiwilligenbataillone sich bisweilen ziemlich danebenbenehmen.

Die angespannte Situation wirkt sich auf den heutigen Urnengang aus. Angesichts der Frontlage, einer sozialen Apathie, eines tiefen Misstrauens und des Glaubens, dass die einzelne Stimme nichts entscheidet, würden am Sonntag maximal 50.000 von 170.000 Wahlberechtigten zu den Urnen gehen, klagt Igor Reschetnjak. Der eher unbeholfen wirkende Ex-Kriminalpolizist tritt im Wahlkreis 58 für den Block Petro Poroschenko an. Er versucht mit den Sympathiewerten des Präsidenten zu reüssieren. Chancen gegen Taruta dürfte er keine haben. Böse Zungen behaupten, dass er vielleicht auch gerade deswegen aufgestellt wurde.

Aber auch Serhij Malikow, ehemals Politjungstar der Partei der Regionen in Mariupol, dürfte im Kampf um das Mandat von Wahlkreis 58 lediglich Außenseiterchancen haben. Mit Wahlkampfplakaten, auf denen mit Blau, Rot und Weiß zumindest die Farben der russischen Flagge vorkommen, will er sichtlich auch prorussische Protestwähler ansprechen. Politische Gegner beschuldigen ihn gar, Anhänger der abtrünnigen Donezker Volksrepublik zu sein. Malikow weist dies zurück: „Ich trete kategorisch gegen bewaffnete Versuche auf, die verfassungsgemäße Ordnung in der Ukraine zu verändern.“ Vor wenigen Tagen durchsiebte eine Maschinengewehrsalve die Fenster seines Wahlkampfbüros. „Irgendjemand von meinen Konkurrenten versucht mich einzuschüchtern“, erklärt er. Da der Angriff nächtens erfolgte, gab es keine Opfer. Malikows Bodyguards tragen ebenso Maschinengewehre.

Auch Ex-Gouverneur Taruta, der mit mehr als 50 Prozent der Stimmen und damit mit einem sicheren Mandat rechnet, spricht von Terrorkommandos, die in Mariupol eine Destabilisierung anstrebten. Sie könnten auch versuchen, bekannte Politiker zu liquidieren: „Diese Gefahr ist leider real.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.10.2014)

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