Ungarn: "Wir können nicht auf die EU warten"

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Regierungssprecher Kovács geißelt die „verstörende“ Untätigkeit der EU in der Flüchtlingskrise, rechtfertigt den Grenzzaun und deutet erneut einen Militäreinsatz an.

Sie heben den Stacheldraht an und kriechen auf dem Boden nach Ungarn, in die Europäische Union. Oder sie marschieren über die Gleise. Trotz des provisorischen Grenzzauns kommen jeden Tag mehr: 3421 Flüchtlinge überquerten am Mittwoch die grüne Grenze. Die Orbán-Regierung fühlt sich nun in der Bewältigung des Flüchtlingsansturms von der EU im Stich gelassen. „Natürlich sind die Bilder von den Tragödien im Mittelmeer verstörend, aber es ist auch verstörend, dass die EU-Agenturen nicht sehen, was an der ungarisch-serbischen Grenze passiert“, kritisierte Regierungssprecher Zoltán Kovács im „Presse“-Gespräch – kurz bevor das Drama auf der A4 bekannt wurde.

Lange habe der Mittelmeerraum die gesamte Aufmerksamkeit absorbiert, während sich in dessen Schatten die Lage auf dem Westbalkan zugespitzt habe. „Wir brauchten einen Monat, bis die EU-Kommission auf die Situation an der sogenannten Westbalkan-Route aufmerksam wurde.“ In dem Konflikt mit Brüssel geht es auch ums Geld. Die Krise koste den ungarischen Steuerzahler 16 Milliarden Forint (umgerechnet rund 50 Mio.), sagt Kovács. Und zwar nur 2014 und heuer. „Vergleichen Sie das einmal mit den 60 Mio. Euro, die man uns bis 2020 zur Verfügung stellt und den 8,5 Millionen Euro, die uns nun an Soforthilfe versprochen werden.“ Ungarn habe bisher für den Grenzschutz weniger Mittel als Polen erhalten, „das nun wirklich kein Migrationsproblem hat“, sagt Kovács. „Das ist nicht gerecht. Das entspricht nicht der Realität der Krise.“

Auf die Kritik, wonach Ungarn mit seinen aktionistischen Alleingängen die EU und die Nachbarländer vor den Kopf stoße, entgegnet der Regierungssprecher: „Wir wissen, dass Länder wie Ungarn oder Österreich diese Krise nicht allein lösen können. Aber wir haben nicht die Zeit, um auf Entscheidungen der EU und internationaler Organisationen zu warten.“ Es gebe ja nicht einmal einen „machbaren Vorschlag“ zum Umgang mit der Krise – eine Anspielung auf die Forderung nach einer Quote zur Aufteilung der Flüchtlinge, die Orbán als Schwachsinn verschmähte. Ungarn habe auch nie behauptet, dass der Grenzzaun die Flüchtlingswelle stoppen würde. „Wir glauben aber, dass der Zaun und das erhöhte Polizeiaufgebot ein Mittel sind, illegale Migranten zu den offiziellen Grenzübergängen zu lotsen.“ Zudem spielt Ungarn mit dem Gedanken, das Militär einzusetzen. „Das Parlament wird das nächste Woche erwägen und vielleicht darüber entscheiden“, sagt Kovács. Zu den Details schweigt er.

Zugleich warnt er, dass die Flüchtlinge immer aggressiver würden. „Sie kommen über fünf, sechs Länder bis zur EU-Außengrenze. Das ist doch nicht normal. Das müssen wir stoppen [...] Es ist schlicht verboten, die offiziellen Grenzübergänge zu umgehen.“

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2015)

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