Syrien: Assads Armee geht aufs Ganze

An injured woman reacts at a site hit by airstrikes in the rebel held area of Old Aleppo
An injured woman reacts at a site hit by airstrikes in the rebel held area of Old AleppoREUTERS
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Das Regime rüstet sich zur Eroberung von Aleppo. Die Waffenruhe und die Genfer Friedensverhandlungen stehen vor dem Kollaps. Russland muss sich nun entscheiden, ob es Assad weiter hilft oder ihn bändigt.

Genf/Kairo. Syrien-Unterhändler Staffan de Mistura wirkte erschöpft. „Wie können wir substanzielle Gespräche führen, wenn uns nur Nachrichten von Beschuss und Bombardierungen erreichen?“, fragte er frustriert bei seiner mitternächtlichen Pressekonferenz in Genf, nachdem er zuvor den UN-Sicherheitsrat über den Stand der Dinge informiert hatte. Alle 25 Minuten sterbe momentan in Syrien ein Mensch, rechnete de Mistura vor. Der am 27. Februar ausgerufene Waffenstillstand liege in den letzten Zügen. Er werde im Mai die Verhandlungen erst weiterführen, wenn die Feuerpause „wiederbelebt ist“. An Russland und die USA appellierte der Diplomat, einen weiteren Gipfel der Internationalen Syrien-Unterstützungsgruppe zusammenzutrommeln, um das Assad-Regime und die Rebellen zurück auf Friedenskurs zu zwingen.

Kriegstaten und Provokationen

Das Hohe Verhandlungskomitee (HNC) der Opposition mit dem abtrünnigen Ex-Premier Riad Hijab an der Spitze reiste bereits vergangene Woche aus Genf ab, aus Protest gegen die permanenten Verletzungen der Waffenruhe. Das Regime dagegen spielt auf Zeit und zeigt keine echte Bereitschaft, sich zu bewegen. Stattdessen häufen sich auf dem Schlachtfeld die Kriegstaten und Provokationen. Vor allem in Aleppo, aber auch am Stadtrand von Damaskus sowie in den Provinzen Homs und Latakia sind die Kämpfe wieder voll entflammt. Am Freitag kündigte das syrische Militär zwar eine kurzzeitige neue Waffenruhe in einigen Regionen an. Aleppo wurde dabei aber nicht erwähnt.

Im von Rebellen besetzten Ostteil Aleppos legten Kampfflugzeuge am Donnerstag das al-Quds-Kinderkrankenhaus in Trümmer, das von Ärzte ohne Grenzen mitfinanziert wurde. Mehr als 30 Menschen starben, darunter elf Krankenschwestern, drei Kinder und einer der letzten noch praktizierenden Kinderärzte. Als „unentschuldbar“ geißelte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon dieses Kriegsverbrechen. Bewohner machten wegen der Präzision des Angriffes und der Größe der eingesetzten Bombe russische Kampfjets verantwortlich – was der Kreml bestritt. „Egal, wo du bist, überall hörst du Explosionen und überfliegende Flugzeuge“, zitierte die „New York Times“ den lokalen Chef des Internationalen Roten Kreuzes. „Alle fürchten um ihr Leben, und niemand weiß, was als Nächstes kommt.“ Am Freitag wurde eine weitere Klinik im al-Marja-Bezirk bombardiert – ungeachtet der weltweiten Empörung.

Denn das Regime geht jetzt offenbar aufs Ganze, will in den nächsten Wochen in einer Großoperation Aleppo umzingeln und wieder ganz in seine Gewalt bringen. Es sei an der Zeit, „die entscheidende Schlacht zur Befreiung von Aleppo zu beginnen“, tönte die Zeitung „al-Watan“. Der Angriff werde bald starten und nicht lange dauern, schrieb das Regimeblatt. Der Fall des Ostteils der Metropole wäre ein schwerer Schlag für die Opposition und könnte die Machtverhältnisse weiter in Richtung Regime verschieben.

Insofern ist der Schlüssel für die weitere Entwicklung Russland. Entweder beteiligt sich Moskau an der Aleppo-Eroberung, lässt die Genfer Gespräche platzen und sich weitaus tiefer in den Bürgerkrieg hineinziehen als bisher. Oder der Kreml muss das Regime in den nächsten Tagen in die Schranken weisen. Dann wird sich zeigen, wie groß der Einfluss von Putin auf Machthaber Bashar al-Assad wirklich ist, spielt doch das Regime seine beiden Hauptverbündeten immer wieder gegeneinander aus. Wenn Russland in Syrien Militärpräsenz und Einfluss preisgibt, stößt der Iran sofort mit eigenen Kräften nach.

Die meisten Soldaten der Islamischen Republik auf dem syrischen Schlachtfeld sind inzwischen afghanische Flüchtlinge. Sie werden im Iran vor die Alternative gestellt, sich entweder als Freiwillige zu melden oder in ihre Heimat abgeschoben zu werden. Das verringert die iranischen Verluste und die Beunruhigung der eigenen Bevölkerung, lautet das zynische Kalkül von Teherans Kriegspolitik, die nach wie vor von den Hardlinern um Ajatollah Ali Khamenei bestimmt wird.

Lippenbekenntnisse aus Damaskus

Und so hat de Mistura bisher keine substanziellen Fortschritte am Verhandlungstisch zu verkünden. Einzig neu ist, dass nun auch das Assad-Regime für die geplante einjährige Übergangsphase erstmals das Wort „Übergangsregierung“ als Begriff akzeptiert hat und nicht mehr auf das Konzept einer erweiterten Regierung pocht, also der Assad-Führung mit einigen beigestellten Oppositionspolitikern.

Bisher ist das nicht mehr als ein formales Lippenbekenntnis. Konstruktive Vorschläge aus Damaskus zur Zusammensetzung dieser Übergangsführung, die bis August installiert werden und eine neue Verfassung ausarbeiten soll, gibt es nicht. „Es gibt auf allen Seiten keinen Zweifel mehr, dass ein wirklicher und glaubwürdiger politischer Übergang dringend notwendig ist“, erklärte de Mistura. Zur künftigen Rolle Assads jedoch wollte er sich nicht äußern. Für die Delegation des Regimes ist dieses Thema tabu – für die Opposition der Kern jeder Friedensregelung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

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