Der bedrängte IS richtet seinen Blick nach Europa

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Der IS ist in Syrien und dem Irak auf dem Rückzug. Entwarnung für Europa gibt es deshalb nicht. Im Gegenteil. Die Anschlagsgefahr steigt.

Wien/Istanbul. Noch gibt es keine Gewissheit über die Drahtzieher des Massenmords am Istanbuler Atatürk-Flughafen, auch kein Bekennerschreiben. Der Anschlag in der türkischen Millionenmetropole trägt aber zumindest die Handschrift der Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Angriffe mit Sturmgewehren und Sprengstoffgürteln: Das Blutbad weckte sofort Reminiszenzen an den IS-Terror in Paris, die Explosionen und Schüsse in Bars, Cafés, dem Bataclan-Saal und vor dem Stadion Stade de France. Als Blaupause für die konzertierten Terroraktionen, die lange Planung erfordern, dürften dabei die Angriffe in Mumbai 2008 dienen.

Auch der Tatort fügt sich in die bisherige IS-Taktik: Der Anschlag auf den drittgrößten Flughafen des Kontinents, den Abermillionen Europäer als Transit-Hub kennen, erzeugt über die türkischen Landesgrenzen hinweg Schrecken – und damit Aufmerksamkeit, mit der sich rekrutieren lässt.

Der IS hatte bereits vor Wochen in einer Audiobotschaft zu Anschlägen während des Ramadans aufgerufen. Potenzielle Jihadisten sollten erst gar nicht nach Syrien aufbrechen. Anschläge auf Zivilisten in Europa seien viel wirkungsvoller, so die Botschaft. Der heilige Fastenmonat Ramadan endet am 4. Juli. Es mag Zufall sein, aber zuletzt häuften sich IS-Anschläge: In der Vorwoche rissen zwei Selbstmordattentäter an der syrischen Grenze sechs jordanische Soldaten in den Tod. Am Montag fielen acht Selbstmordattentäter in zwei Wellen über ein christliches Dorf im Libanon her. Fünf Menschen starben. Und nun wohl Istanbul. Der jüngste Anschlag kreist dabei um ein für den IS wichtiges Datum: Genau gestern vor zwei Jahren hatten die Jihadisten ihr „Kalifat“ ausgerufen.

Doch dieses „Kalifat“ zerbricht. Niederlage um Niederlage setzt es für den IS in seinen Kernlanden. Die Kontrolle über das irakische Falluja ist längst verloren, nun rückt die Schlacht um die Millionenmetropole Mossul näher. Gefechte gibt es auch um Manbij: Fällt die nordsyrische Stadt, ist der Weg frei für eine Offensive auf Raqqa, die Hauptstadt des IS. Überdies leidet die Terrormiliz Berichten zufolge an massivem Geldmangel.

„Verlagerung nach Europa“

Die Rückschläge für den IS in Syrien und dem Irak dämmen die Terrorgefahr vorerst aber nicht ein. „Eher befürchten wir eine Externalisierung, eine Verlagerung von Aktivitäten des IS auch nach Europa“, erklärte Deutschlands Innenminister, Thomas de Maiziere. Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen nannte die Lage ernst, Deutschland stehe weiter im Fokus des IS, aber auch der al-Qaida (Osama bin Ladens Erben breiteten sich zuletzt im Schatten des IS wieder aus). In 17 Fällen habe der Verfassungsschutz substanzielle Hinweise, dass als Flüchtlinge getarnte Jihadisten ins Land kamen, so Maaßen. Die meisten seien aber bereits tot oder verhaftet. Auch in Belgien klickten in der Vorwoche die Handschellen. Zwei Landsleute sollen Berichten zufolge Angriffe auf eine Fanzone während der Übertragung eines EM-Fußballspiels geplant haben. Schon zuvor gab es einen Medienbericht, wonach sich zwei IS-Kommandos mit Ziel Frankreich und Belgien auf den Weg nach Europa gemacht hätten.

Während der Fußball-EM schreckte zudem der Polizistenmord durch einen IS-Sympathisanten in Magnanville bei Paris die Weltöffentlichkeit auf. Ansonsten störten nur Hooligans das Fußballfest. Entwarnung gibt es aber noch nicht. Das deutsche BKA hat vor dem Turnier auch das Finale als „besonders gefährdet“ eingestuft. Es findet am 10. Juli statt. Im Stade de France. (red.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2016)

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