Armin Thurnher: Mein Vorarlberg

(c) Clemens Fabry
  • Drucken

Vorarlberg ist kein Land der Schwärmer, es ist das Land der zur Moderne entschlossenen No-Nonsense-Typen. Das gilt auch für die politische Verwaltung. Hier ist Westen, wie er westlicher nicht sein kann.

Wer sich als Wiener Vorarlberger die Frage stellen lässt, was „sein Vorarlberg“ sei, sollte sich gleich fragen, ob er überhaupt noch Vorarlberger ist. Wer wie der Autor dort geboren wurde und seine ersten 18 Jahre im Ländle verbracht hat, dem droht das innere Alemannentum davonzuschmelzen; knappe 28 Prozent beträgt dieser Kern-Identitätsanteil noch (Tendenz sinkend), der New Yorker Anteil beläuft sich auf weniger als zwei, der Wiener füllt die restlichen siebzig Prozent aus. Zugegeben, der harte Kern bleibt. Einmal Vorarlberger, immer Vorarlberger.

Bei der Schilderung „seines Vorarlberg“ wird allzu üppige aktuelle Sachkenntnis den Autor nicht behindern; dafür ist er zu lange weg. Andererseits ist er oft genug dort, um ein Vorarlberg-Bild zu haben. Mal soll er über sein Unternehmerbild sprechen, mal über den Neoliberalismus diskutieren. Dass man ihn über Medien reden hören will, versteht sich, mitunter auch über gutes Essen. Dem Wunsch kommt er gern nach, ist er doch in einem Gasthaus an der Stadtgrenze von Bregenz auf die Welt gekommen.

Bregenz ist Stadt und fühlt sich so; der Rest ist – Feldkirch ausgenommen – Agglomeration: im Rheintal fast durchgehend zu einer amorphen urbanen Masse zusammengewachsen, scharf kontrastiert durch sich über das Tal erhebende Villen und alte Bauernhäuser, dann durch die hohen Linien der heimischen und Schweizer Berge. Die Einfahrten in größere und kleinere Dörfer muten mit ihren Supermärkten, Tankstellen und Industrieparks amerikanisch an, bloß sauberer und niedlicher.

Dazwischen blühen Gärten um die Wette, überall ist man in ein paar Minuten „in der Natur“, und doch schrumpfen naturgeschützte Räume, während Bauplätze wachsen. Immerhin stimmt Vorarlberg seine Raumplanung nun mit der Schweiz ab, mit der es das Rheintal teilt. Die Raika an der Ecke hat ein Design, für das sich keine Metropole genieren müsste, die Seilbahn ist futuristisch, der Traktor Hightech, der Stall ein Passivhaus, und wenn der Bauer zubaut, kommt er in die Architekturzeitung. Wo noch findet man so viel Verhüttelung und Vervorstädterung, aber auch so viel qualitätvolle Architektur?

Man hat das jetzt so, wie die Redewendung lautet, mit der man sich gleichsam dafür rechtfertigt, mit der Zeit zu gehen. Wer höhnisch „Provinz“ sagt, hat nichts verstanden. Eines der jüngsten Architekturprojekte verblüfft derzeit im Architekturzentrum Wien das Publikum. Die Vorderwaldgemeinde Krumbach hat sich von sieben weltweit renommierten Architekten Bushaltestellen entwerfen lassen. Kuratiert hat die Aktion der Leiter des Achitekturzentrums Wien, Dietmar Steiner. Auch weil (oder gerade weil?) manche nur als Skulpturen aufzufassen sind, zeigen sie nicht nur Willen zur Zeitgenossenschaft, sie prägen eine Kulturlandschaft mit.

So wie das die alten Bauernhäuser tun, die mit dem modernen Holzbau und der Landschaft eine viel gelobte Symbiose eingehen. Wie kam das Wunder der Vorarlberger Baukunst zustande? Indem junge Architekten sich den Titel Baukünstler anmaßten, Förderungen, Raumordnung und Ökologie zusammenspielten und vor allem die hüslebauwütige Bevölkerung animiert wurde mitzumachen. Selbstbau war möglich, Mitplanung gewünscht.

Handwerk und Moderne. Auf Vorarlberger Baustellen, muss man im Osten wissen, besteht der Polier darauf, dass am Abend ordentlich zusammengeräumt wird. Jeden Abend. Jeder Bauherr will nicht nur auf der Baustelle essen können, sondern die zukünftigen Energiekosten genau kennen. Und jeder Bürgermeister will, dass Spritzenhaus und Festsaal Monumente der Moderne darstellen. Dass das nicht immer so war, daran erinnert der Bregenzer Bahnhof auf grimmige Weise.

Handwerk und Moderne passen hier zusammen, das hat wohl dem schwierigen Schweizer Architekten Zumthor imponiert; er baute nicht nur das großartige Kunsthaus Bregenz, sondern auch den (schwächeren) Werkraum in Andelsbuch für eine permanente Handwerksausstellung. Im neuen Landesmuseum gibt es einen Raum, der ganz mit dunklem Samt ausgeschlagen ist. Durch das riesige Glasfenster nach Westen sieht man den Bodensee vor sich – ein Kaiserpanorama. Als Bregenzer hat man das deutsche Lindau und die „Schweizer Berge“ stets im Blick. Bücher, die man in Bregenz nicht fand, fand man in der Lindauer Buchhandlung Stettner, die – wie der exzellenten Franz-Michael-Felder-Schau im Landesmuseum zu entnehmen ist – schon im 19. Jahrhundert diesen rebellischen Dichter aus dem Bregenzerwald mit Literatur zwecks Selbstbildung belieferte. Seit ein paar Jahren existiert sie leider nicht mehr.

Vom Pfänder, dem Bregenzer Hausberg, hat man bei gutem Wetter Aussicht über den ganzen See bis nach Konstanz hinunter und auf der anderen Seite in den Bregenzer Wald hinein; Oberländer schauen nach Liechtenstein und in die Schweiz; Vorderwälder ins deutsche Allgäu. Die Wirkung des Bodensees kann nicht überschätzt werden. Nicht nur der Bregenzer Festspiele wegen, dieser cleveren Kombination aus Spektakel und Moderne. Nein, um „den See“ liegt eine europäische Kulturlandschaft, vom Stift St. Gallen bis zu den Wundern der Insel Reichenau, vom Konzilsgebäude in Konstanz, wo Jan Hus verbrannt wurde, zu den weißen Rokokokirchen Süddeutschlands.


Grenzüberschreitung. Ob das auf die Mentalität wirkt? Das Überschreiten von Grenzen gehört jedenfalls zur alltäglichen Erfahrung: Zum Einkaufen fuhr man in den 1970er-Jahren in die Schweiz, wo Kaffee und Zucker billiger waren. Für Amüsement in Bar und Disco wichen pubertierende Knaben ins deutsche Lindau aus, wo sie hoffen konnten, der Überwachung von Eltern und Lehrern zu entgehen (der Besuch der eher harmlosen Milano-Bar in Bregenz war mit Schulrelegation bedroht). In den Sechzigerjahren war Ingmar Bergmans Film „Das Schweigen“ einer Nacktszene wegen verboten. In Lindau spielte man ihn monatelang, der Kinoparkplatz war voll von Autos mit Vorarlberger Kennzeichen. Prostitution ist im Land noch immer untersagt.

Heute kommen die Schweizer nach Vorarlberg zum Einkaufen und gehen nach Bregenz ins Casino. Discos und Szenelokale wummern wie überall. Die Grenze zwischen den EU-Ländern Deutschland und Österreich existiert nur mehr als Bauwerk. Die Schweiz ist aufgrund der hohen Löhne für Freiberufler und Lehrer aus Vorarlberg ein gesuchter Arbeitsplatz. Allerdings bekommt man noch immer manches Luxusgut in besserer Qualität. Ein Zigarrengeschäft, vergleichbar jenem der älteren Damen („d' Wiber“) in Rheineck, findet man in ganz Österreich nicht. Macht nix: Paris, Mailand, München, Zürich gehören zum Einzugsgebiet.

Weich gemacht hat ihr internationaler Blick die Vorarlberger nie. Ihre Unternehmer und Politiker wie der spätere Landeshauptmann Martin Purtscher, zuvor Manager bei Suchard, drängten als Erste in Österreich entschlossen in die EU. Sie sahen den Wirtschafts-, nicht den Kulturraum. Im Ländle regiert die Realwirtschaft. Hier kommt es auf reale Produkte und deren Qualität an. Das ist schön, weil handfest und weit weg von den Spekulationsblasen der Börsen. Weniger schön ist, dass die Realwirtschaft bisweilen alle Bereiche regiert. Schaffa, spära, husa, Katz verkoufa, sealbar musa (Schaffen, sparen, haushalten, Katze verkaufen, selber mausen), dieser legendäre, selbstironische Spruch gilt immer.


Fehlende Arbeiterklasse. Vorarlberg ist kein Land der Schwärmer, es ist das Land der zur Moderne entschlossenen No-Nonsense-Typen. Kein Philosophicum der Welt wird daran etwas ändern, aber immerhin findet dieses statt, in Lech in diesen Tagen wieder. Hier ist Westen, wie er westlicher nicht sein kann. Das Kalifornien Österreichs minus Unterhaltungsindustrie. Aber mit Umweltresolutheit, vom Mülltrennen bis zum ökologisch korrekten Haubenlokal und zu grünen Hightech-Industrien. Entschlossen schwitzen Fitte und Menschen in neonbunten Trikots bergan oder seewärts. Selbst die Unterwäschemodels auf den Inseraten schauen zielstrebiger als anderswo. Apropos: Stören solche Strumpf-Sujets keine Katholikin? Aber wo, das hat man eben so.

Handwerk und Moderne passen hier auch auf andere Weise zusammen. Universität gibt es keine, der Anteil der Lehre am Bildungssystem ist ungewöhnlich hoch. Andererseits drängen immer neue Unternehmer von unten dank einer technischen Innovationskraft nach, die wohl etwas mit dieser Handwerkskultur zu tun hat. Viele der heute bekannten Weltunternehmen aus Vorarlberg begannen als Werkstattgründungen von Ingenieuren oder Handwerkern. Der Stil traditionellen Fabrikantentums ging mit der Textilindustrie dahin.

Dass keine organisierte Arbeiterklasse existiert, dafür war der politische Katholizismus zuständig. Das früher knorrig diktatorische Regime der „Vorarlberger Nachrichten“ wich einem freundlicheren, aber doch markt- und medienumfassenden Diktat. Oppositionelle wurden einst wenig zimperlich marginalisiert. Dennoch gab es sie immer, wie den kommunistischen von der Gestapo verhafteten Bregenzer Stadtrat Max Haller, Freund des Malers Rudolf Wacker, dem Vorarlberg sein nicht privatisiertes, durchwegs öffentlich zugängliches Bodenseeufer verdankt. Im politischen Spektrum aber blieb die Linke chancenlos.

Wohl, weil auch die politische Verwaltung auf Nonsense keinerlei Wert legt. Pluralismus und kulturelle Vielfalt hingegen hat man hier heutzutage. Außerdem schätzt man die Härte der Auseinandersetzung. Offene Gespräche mit Menschen, welche die Welt ganz anders anschauen als man selbst, erlebt man hier oft genug. Genau genommen öfter als anderswo. Aber vielleicht sagt das dem Autor nur sein alemannischer Restkern ein.

Steckbrief

Armin Thurnher
Der gebürtige Vorarlberger ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur der Wiener Stadtzeitung „Falter“. Er gilt als einer der bedeutendsten Publizisten Österreichs und hat neben seinen wöchentlichen Leitartikeln mehrere Bücher verfasst. Sein bisher letztes ist 2013 im Zsolnay-Verlag erschienen: „Republik ohne Würde“.

BundesLand

Westen. Vorarlberg ist das westlichste Bundesland, aber nicht das kleinste – weder in Bezug auf die Fläche noch auf die Bevölkerung.

Fläche. Das Ländle erstreckt sich über rund 2600 Quadratkilometer. Und liegt damit flächenmäßig noch vor Wien.

Bevölkerung. Mit rund 375.000 Einwohnern liegt Vorarlberg in puncto Einwohnerzahl vor dem Burgenland.

Dialekt. Im Gegensatz zum restlichen Gebiet Österreichs werden in Vorarlberg keine bairischen Dialekte gesprochen, sondern alemannische.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Landeshauptmann Markus Wallner (links) und der grüne Spitzenkandidat Johannes Rauch
Innenpolitik

Vorarlberg: Schwarz-Grün, die Nächste?

Die ÖVP verliert die Absolute. Landeshauptmann Markus Wallner muss sich nun entscheiden, mit wem er regieren will. Am wahrscheinlichsten scheint eine Koalition mit den Grünen.
Politik

Vorarlberg: ÖVP legte in nur sechs Gemeinden zu, Grüne in 94

Die ÖVP erhielt nur mehr in einer Gemeinde über 80 Prozent Zustimmung. Die besten und schlechtesten vorläufigen Gemeinde-Ergebnisse im Überblick.
Innenpolitik

ÖVP verlor vor allem an FPÖ und Grüne

Wählerstromanalyse: Die Neos punkteten in Vorarlberg vor allem bei ehemaligen Nichtwählern.
Politik

Vorarlberg-Wahl: Parteigremien tagen am Montag

Die SPÖ startet um 17:30 Uhr, die ÖVP folgt um 18 Uhr. Trotz Wahldebakel steht bei der SPÖ wohl kein Personalwechsel an.
Politik

FPÖ bei den Unzufriedenen voran

Junge Männer wählten in Vorarlberg blau, junge Frauen grün.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.