Unfälle: Bei Gefahr darf man falsch reagieren

Zwei Instanzen gaben einem Motorradfahrer die Mitschuld an seinem Unfall. Erst das Höchstgericht erklärte, dass bei einer plötzlich auftauchenden Gefahrensituation ein Fehler wie eine zu starke Bremsung passieren könne.
Zwei Instanzen gaben einem Motorradfahrer die Mitschuld an seinem Unfall. Erst das Höchstgericht erklärte, dass bei einer plötzlich auftauchenden Gefahrensituation ein Fehler wie eine zu starke Bremsung passieren könne.(c) APA/HERBERT PFARRHOFER
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Ein Motorradlenker bremste zu stark, als er plötzlich ein Hindernis auf der Straße sah, und stürzte. Obwohl sich der Mann in der Situation schlecht verhielt, bekommt er den Schaden ersetzt.

Wien. Er sei an seinem Unfall mitschuldig. Das meinten die ersten beiden Instanzen im Fall eines Motorradfahrers, der falsch reagiert hatte, als vor ihm ein auf der Straße liegender Fahrzeugbestandteil auftauchte. Der Mann hatte statt einer dosierten Bremsung, die ihm ein Ausweichen ermöglich hätte, eine blockierende Bremsung mit dem Hinterrad eingeleitet. Dadurch schwenkte das Rad nach links, das Motorrad kam in eine Schräglage, der Fahrer stürzte. Aber muss man in so einer plötzlichen Situation wirklich richtig reagieren? Darüber musste am Ende der Oberste Gerichtshof (OGH) entscheiden.

Der Mann war bei dem Unfall verletzt, sein Gefährt war beschädigt worden. Der auf der Straße liegende Fahrzeugteil stammte vom Kotflügel eines Zwillingsrades, den ein Sattelzugfahrzeug verloren hatte. Im Prozess ging es um 34.000 Euro Schadenersatz.

Der Motorradfahrer hatte sich der Unfallstelle auf einer Landesstraße mit circa 90 km/h genähert, 35 bis 40 Meter vor ihm fuhr ein Pkw. Erst als der Pkw-Lenker den Wagen nach links lenkte, sah auch der Motorradfahrer das auf der Straße liegende Stück. Und das Unglück nahm seinen Lauf.

Der vom Verletzten geklagte Verband der Versicherungsunternehmen erklärte sich bereit, für zwei Drittel des Schadens aufzukommen. Alles wolle man nicht zahlen, da der Motorradfahrer den Unfall hätte verhindern können.

Womit muss man rechnen?

Das Landesgericht Leoben sah das ähnlich. Der Mann hätte durch leichtes Auslenken auch ohne Bremsung oder mit einer dosierten Bremsung das Hindernis umfahren können. Auch das Oberlandesgericht Graz sah ein Mitverschulden des Unfalllenkers. Der Lenker eines Fahrzeugs müsse auch mit schwer wahrnehmbaren Hindernissen auf der Fahrbahn rechnen, etwa Ölspuren. Dem Mann verblieb zwar wenig Zeit zu reagieren. In diese Situation habe sich der Lenker aber selbst gebracht.

Objektiv gesehen wäre dem Motorradfahrer zwar ein Aus- und Vorbeilenken am Hindernis möglich gewesen. Der Kläger sei aber subjektiv nicht in der Lage gewesen, auf das vor ihm auftauchende Hindernis richtig zu reagieren. Sodass die von ihm gewählte Mischung aus Geschwindigkeit und Abstand zum Vordermann der Straßenverkehrsordnung (StVO) widerspreche, meinte das Oberlandesgericht.

Der OGH kam dem Motorradfahrer zu Hilfe. „Der Lenker eines Kraftfahrzeuges muss zwar bei der Wahl seiner Fahrgeschwindigkeit auch solche Hindernisse in Betracht ziehen, mit denen er bei Beachtung aller gegebenen Umstände triftige Veranlassung zu rechnen hat. Er genügt aber seiner Pflicht, wenn er die Geschwindigkeit den Umständen anpasst, die ihm bei der Fahrt erkennbar werden oder mit denen er nach der Erfahrung des Lebens zu rechnen hat“, erklärten die Höchstrichter. Auf völlig unberechenbare Hindernisse – wie hier einen zunächst nicht wahrnehmbaren Fahrzeugteil – müsse man seine Fahrgeschwindigkeit nicht einrichten, betonte der OGH (2 Ob 160/16t). Der Mann habe nicht gegen die StVO verstoßen.

Kein Mitverschulden

Die Reaktion des Mannes sei zwar „objektiv falsch“ gewesen, fuhren die Höchstrichter fort. „Wird aber ein Verkehrsteilnehmer bei einer plötzlich auftretenden Gefahr zu schnellem Handeln gezwungen und trifft er unter dem Eindruck dieser Gefahr eine – rückschauend betrachtet – unrichtige Maßnahme“, dann könne ihm dies nicht als Mitverschulden angerechnet werden. Weswegen der Motorradfahrer nun seinen Schaden zur Gänze ersetzt bekommt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.12.2016)

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