"Ui, dös is a Mensch": Das Mysterium um die Mumie vom Tisenjoch

(c) APA/AFP/ANDREA SOLERO
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25 Jahre nach dem Sensationsfund des Ötzi am Alpenhauptkamm, hart an der Grenze zwischen Nord- und Südtirol, gibt der Grenzgänger der Wissenschaft weiter Rätsel auf. Zweifelsfrei geklärt ist nach anfänglichen Rivalitäten indessen, dass es sich bei der am besten erforschten Gletscherleiche der Geschichte um einen Südtiroler handelt.

Hoch oben auf dem Tisenjoch, in 3200 Metern Seehöhe, mit Blick auf das Ortlermassiv im Süden, wo die Luft allmählich dünner wird, flattern bunte, tibetische Gebetsfahnen auf einer Steinpyramide. Sie haben indes rein gar nichts mit dem 70 Meter entfernten Sensationsfund zu tun, den das Denkmal inmitten von Schneefeldern und einer Steinwüste am äußersten Ende der Ötztaler Alpen markiert. Es ist zumindest nicht überliefert, dass in prähistorischen Zeiten hier Buddhisten hausten. Auf der einen Seite erhebt sich die Similaunspitze über dem schmutzig-grauen Gletscherfeld, auf der anderen ragt das Gipfelkreuz der Fineilspitze über schroffe Felswände – die Kulisse für einen Jahrhundertfund, so der Innsbrucker Archäologe Walter Leitner.

Zwischen den Grenzsteinen 35 und 36 stießen Helmut und Erika Simon am 19. September 1991, um 13.30 Uhr, in einer Mulde, einem Tümpel aus Schmelzwasser, auf eine Gletscherleiche, die als „Mann vom Hauslabjoch“, schließlich als „Ötzi“ und im angelsächsischen Raum als „Iceman“ und „Frozen Fritz“ in die Geschichtsbücher einging. Für Italien bleibt der Grenzgänger zwischen Nord- und Südtirol, laut Wissenschaft im Eisacktal geboren und im Vinschgau sesshaft gewesen, der Similaun-Mann, wie es auf der Gedenktafel am Tisenjoch offiziell vermerkt ist.

Dass seine männlichen Vorfahren, wie die Forschung herausfand, zwischen 8000 und 10.000 vor Christus aus Vorderasien, also womöglich aus der heutigen Türkei oder aus Syrien, hierher eingewandert sind, ist eine ironische Pointe der Geschichte und ein hübsches Aperçu zur aktuellen Flüchtlingskrise. Ungewöhnlich viele Nachfahren leben heute im Übrigen auf Sardinien und Korsika.

Während Hirten ein paar hundert Meter unterhalb die Schafherden von ihren Sommerweidegründen wieder auf die Südtiroler Seite treiben und Nebelschwaden aus dem Tal aufziehen, schwebt ein Hubschrauber mit Getöse auf dem Tisenjoch ein. An Bord: Erika Simon, Walter Leitner und Leonhard Falkner, Chef des Ötzidorfs in Umhausen im Ötztal. Zur Rekonstruktion der historischen Entdeckung vor 25 Jahren haben sie eine Nachbildung des Ötzi und dessen Utensilien in einem blauen Plastiksack im Gepäck. Falkner zerrt die Ötzi-Kopie aus dem Museumsdorf heraus, deponiert sie kopfüber vor dem mit einem roten Punkt versehenen Steinbrocken und buddelt sie nach einigem Hin und Her im Schnee ein – ungefähr in jener Position, in der die mumifizierte Leiche nach rund 5300 Jahren aus ihrem Grab in Schnee und Eis aufgetaut – und ergo aufgetaucht – ist. „Jedes Mal rinnt es mir dabei kalt über den Buckel“, sagt Falkner.

Erika Simon, einst eine passionierte Wandererin, inzwischen 76 Jahre alt und nicht mehr ganz so gut zu Fuß, hat die Geschichte sicherlich Hunderte Male erzählt, wie sie und ihr Mann im Urlaub nach dem Abstieg von der Fineilspitze unterhalb des Hauslabjochs eine Abkürzung nahmen und einen braunen Schädel erspähten. Die Nürnbergerin reagierte ein wenig entgeistert an jenem warmen Spätsommertag, einem Donnerstag, wie sie im fränkischen Dialekt schildert: „Ui, dös is ja a Mensch.“ Als ihr Mann den Fotoapparat hervorholte, um mit dem letzten Bild im Film ein Foto zu schießen, das später um die Welt gehen sollte, habe sie ihn noch gerügt: „Du wirst doch kein Foto von einer Leiche machen!“

Hernach meldeten sie den Toten – vermutlich einen Bergsteiger oder Tourengeher, wie sie dachten – in der Similaun-Hütte, der nächstgelegenen Hütte. Hüttenwirt Markus Pripamer stieg zu der Fundstelle auf, um sich selbst ein Bild zu machen und anschließend die zuständigen Polizeidienststellen in Österreich und Italien zu alarmieren. „Bei uns ist keiner abgängig“, erklärten die Carabinieri in Südtirol bestimmt und überließen erst einmal ihren Nordtiroler Kollegen die Arbeit. Also flog Anton Koler aus Imst anderntags mit dem Hubschrauber hinauf aufs Tisenjoch, stocherte mit Pickel und Pressluftbohrer ein wenig im Schnee herum, um die Leiche freizulegen, bevor Schneefall einsetzte, der ihn zum Abbruch der Bergung zwang.

Am Samstag bekam schließlich Reinhold Messner, der Ötzi einmal als „wichtigsten Tiroler“ titulierte, auf der Similaun-Hütte Wind von der Sache. Zusammen mit seinem Bergfreund Hans Kammerlander war er während seiner Südtirol-Grenzwanderung gerade dort eingekehrt. Die Leiche stamme mindestens aus dem Mittelalter, lautete sein Urteil nach einer ersten Inspektion, was Luis Pripamer, der Hüttenbesitzer, prompt brummend abtat: „Der Messner macht sich wieder wichtig.“ Der Südtiroler Bergfex und Querkopf ist bei seinen Nordtiroler Landsleuten nicht unbedingt beliebt, zumal er sie jüngst bezichtigt hat, den Ötzi quasi eingemeindet zu haben – nicht zuletzt durch die Namensgebung. Wäre er nicht gewesen, rühmte sich Messner neulich im Brustton der Überzeugung,, hätten die Österreicher den Ötzi gestohlen.

„Das ist ein Insriger“, heißt es noch heute vielfach im Ötztal, sagt Ernst Schöpf, der Söldener Bürgermeister, augenzwinkernd im kernigen Dialekt. „Nein, das ist ein Schnalser“, also ein Schnalstaler, hallte es damals von Südtiroler Seite in die Bergwelt. „Ich durfte den Italienern erst nicht sagen, dass es ein Südtiroler ist“, erinnert sich Anton Koler an den „Krieg am Similaun“, wie er scherzhaft in Anspielung auf den Frontkampf im Ersten Weltkrieg sagt.

Für den kürzlich pensionierten Gendarmen war die Sache von Anfang an klar, und bei einer Vermessung hat sich der Verdacht eindeutig bestätigt: Die Leiche lag 92,56 Meter auf italienischem Territorium. „Dass das hier bei uns passiert ist, kann uns niemand nehmen“, sagt Hüttenwirt Markus Pripamer, der das Museumsdorf lieber in Vent, am Talschluss des Ötztals, gesehen hätte. Ansonsten ist ihm der ganze Rummel um Ötzi ein wenig suspekt.

Alois Partl, der bedächtige Tiroler Landeshauptmann, versuchte die Gemüter damals zu beruhigen: „Schreit's net so laut.“ Die Wasserscheidengrenze, der Abfluss nach Norden, wies nach Österreich, die im Staatsvertrag zwischen Wien und Rom in den 1950er-Jahren festgelegte Grenzziehung des Frriedenspakts von Saint-Germain nach Italien. Mehr als sechs Jahre ruhte die Mumie indessen in einer Kühlkammer in Innsbruck, bei einer Temperatur von minus sechs Grad, ehe sie 1998 nach Bozen übersiedelte.

Hineingequetscht in einen Zinksarg war die Gletscherleiche vier Tage nach ihrem Fund ans gerichtsmedizinische Institut in Innsbruck gekommen, wo ein Pathologe die Obduktion verhinderte – ein Glücksfall für die Wissenschaft. Die Untersuchung des aufgefundenen Kupferbeils per Radiokarbonmethode, die nach Oxford und Zürich verschickten Proben verifizierten den prähistorischen Fund.

Medienwirbel brach los. Die Sensation war perfekt, und über die Uni Innsbruck und die Simons, mittlerweile wieder daheim in Nürnberg, brach ein Medienwirbel herein. Anwälte in Bozen drängten das Paar auf Klage für einen Finderlohn, nach jahrelangem Rechtsstreit mit Südtirol bekamen die Simons 175.000 Euro zugesprochen – fast ein Drittel der Prämie kassierten die Anwälte. Der Archäologe Walter Leitner war in jener Septemberwoche mit seiner gerade schwangeren Frau zu einem Mallorca-Urlaub aufgebrochen. „Nie habe ich die Rückkehr aus dem Urlaub mehr herbeigesehnt.“ Heute weiß er: „Wir werden nie alle Geheimnisse entschlüsseln können.“

Inzwischen ist Ötzi, ein Mann von kaum 1,60 Meter und 50 Kilogramm Lebendgewicht, so gut erforscht wie keine andere Gletscherleiche der Geschichte: seine Leiden und Krankheiten, sein Mageninhalt und seine Essgewohnheiten, seine insgesamt 61 Tätowierungen und vieles mehr. Nur der Tod des mutmaßlichen Häuptlings oder Schamanen im Alter zwischen 43 und 52 Jahren gibt nach wie vor Rätsel auf. Bei einer Verfolgungsjagd mit einem Pfeil erschossen und erschlagen, lautet die gängige These, der auch der Film „Iceman“ mit Jürgen Vogel im kommenden Jahr nachgehen wird. Auch Hollywood-Star Brad Pitt hätte sich für die Hauptrolle empfohlen, trägt er doch ein Ötzi-Tattoo mit dem Titel „Invictus“ – der Unbesiegte – am Unterarm. Ecce Homo – der Mann aus dem Neolithikum ist nicht allein für die Wissenschaft ein sprudelnder Quell der Inspiration.

DER ÖTZI

Am 19. September 1991 stießen Helmut und Erika Simon aus Nürnberg in den Ötztaler Alpen auf eine Gletscherleiche, die als Ötzi in die Annalen einging. Für die Archäologen ist es der bedeutendste Fund seit Tutenchamun. Ötzi war vor rund 5300 Jahren vermutlich durch einen Mord ums Leben gekommen, als er aus dem Schnalstal in Südtirol in Richtung Similaun aufstieg und durch Eis und Schnee konserviert worden war. Im Archäologischen Museum in Bozen ist die Mumie ausgestellt.

Nächste Woche schreibt Stefan Karner auf den „Geschichte“- Seiten, wie Siegmund von Herberstein vor 500 Jahren dem Westen Russland erschlossen hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2016)

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