Auf glattem Grund

Das, worauf sie tanzen, ist hart wie Stein: ein Mineral. Und doch gelingen flüssigste Schwünge und Figuren.
Das, worauf sie tanzen, ist hart wie Stein: ein Mineral. Und doch gelingen flüssigste Schwünge und Figuren.REUTERS
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Warum Eis rutschig ist, warum man also mit Schlittschuhen darauf laufen kann und mit Skiern darauf fahren, ist bis heute nicht restlos geklärt.

All jenen, die jetzt auf verschneiten Hängen oder vereisten Seen ihren Spaß haben, wird es ganz gleichgültig sein, wie das überhaupt möglich ist. Und die, die eher mit Missfallen gerade auf einem vereisten Trottoir ausgerutscht sind, haben auch Wichtigeres im Kopf als die Frage, wie man überhaupt gleiten kann auf Eis. Also auf Wasser in festem Zustand, es ist steinhart, ein Mineral. Dass es geht, wurde früh bemerkt und genutzt, im höheren Norden, der im Winter noch unwegsamer wird: Also band sich vor 4000 Jahren einer in Schweden Bretter unter die Schuhe und ging damit über Schnee. Und vor 3800 Jahren band sich einer in Finnland gespaltene Tierknochen unter die Schuhe und querte damit einen zugefrorenen See.

Das war mühsam, diese Schlittschuhe hatten mit heutigen wenig zu tun. Mit denen kommen Eisschnellläufer rascher voran als Sprinter auf der Aschenbahn: Usain Bolt brachte es bei seinem 100-Meter-Weltrekord 2009 in Berlin auf 44,72 km/h, Meister des Eissprints schaffen über 60, mit weniger Schritten und geringerem Kraftaufwand. Bei den ersten Schlittschuhen war dieser hoch, sie konnten nicht mit den Beinen bewegt werden, es brauchte die Arme bzw. eine Stange zum Schieben. Was das für eine Mühe war, hat Federico Formeti (Stoke-on-Trent) von Eisschnellläufern mit nachgebauten Ur-Schlittschuhen testen lassen und mit dem Aufwand von Gehen – auf festem Boden – verglichen (Journal of Experimental Biology 93, S. 1).

Die alten Knochen brauchten 25 Prozent mehr Kraft. Warum wurden sie dann erfunden und für gut befunden? Weil die Wege weit sind in Finnland, oft müssen Gewässer umgangen werden. Kann man über sie abkürzen, rechnen sich Schlittschuhe, auch wenn sie kaum gleiten. Warum sie es überhaupt tun, das fiel als Problem erst 1886 dem Ingenieur John Jolly auf, er suchte die Lösung im Druck: Wenn dieser höher wird, sinkt bei Wassereis der Schmelzpunkt – das ist höchst ungewöhnlich, bei anderen Materialien erhöht er sich –, der Physiker James Thomson hatte es 1860 bemerkt, sein Bruder William (später: Lord Kelvin) fasste es in Formeln.

Mit denen rechnete Jolly so: Ein 70-Kilo-Mann bringt über die schmalen Kufen 466 Atmosphären auf das Eis und setzt damit den Gefrierpunkt um 0,2 Grad herab, das funktioniert bis minus 3,5 Grad Celsius. Die Rechnung wurde später oft modifiziert, man findet viele Werte für den Druck, aber bei minus 3,5 Grad ist immer Schluss. Dabei beginnt dann erst der Spaß: Zum Eislaufen sind minus fünf Grad optimal, zum Eishockey minus neun, und dann ist noch lang nicht Schluss, Eis bleibt bis minus 30 schlittschuhgängig. Bei Schnee darf es noch mehr sein: Bei minus 36 sei er gut vorangekommen auf den Skiern in der Antarktis, notierte der unglückselige Robert Scott, solange er noch notieren konnte, und sein Chefwissenschaftler, Edmund Wilson, blieb erst bei minus 46 stecken, da war der Schnee „wie Sand“ (Peter Rosenberg, Physics Today 2005).

Allmählich werden all jene die Köpfe schütteln, die sich noch erinnern, wie der Physiklehrer die Macht des Drucks demonstrierte: Er legte einen mit Gewichten an beiden Enden behängten Kupferdraht auf einen Eiswürfel. Der Draht fraß sich durch. Aber nicht des Druckes wegen – mit einem Nylonfaden funktioniert das Experiment nicht –, sondern weil Kupfer Wärme leitet und immer neue in das Eis bringt.


Rutschfeste Schuhe. Druck löst das Rätsel also nicht. Was dann? Reibung! Mit dieser Erklärung kamen Fred Bowden und T. Hughes 1939 aus einer Eishöhle am Jungfraujoch, in der es minus drei Grad hatte. Bei denen glitten Kufen, wenn sie einmal in Fahrt waren. Die Forscher kühlten zusätzlich, der Effekt blieb: Reibung erklärt mehr als Druck. Aber alles nicht: Offenbar trugen Bowden/Hughes sehr rutschfestes Schuhwerk, sonst hätten sie schmerzlich erfahren, wie leicht man auch im Stehen ausgleiten kann. Es braucht keine Reibung: Eis ist außen immer nass.

Das war Michael Faraday 1850 aufgefallen, an Eiswürfeln, die er sachte aneinanderschob – sie verschmolzen. Und an einem Wintervergnügen: „Wenn wir Schnee zusammenballen“, notierte er in sein Tagebuch, „gefriert er zu einem Klumpen (mit Wasser darin) und fällt nicht auseinander, wie das noch so nasser Sand oder irgendein anderes Material tun würde.“ (J. G. Dash, Reviews of Modern Physics 78, S. 695). Sandballschlachten gibt es nicht! Aber wie geht das zu, dass Eis außen immer nass ist, auch bei tiefen Minusgraden und wenn die Temperatur außen die gleiche ist wie innen – oder zumindest so als ob? „Quasiflüssig“ nennt man die Schicht („quasi-liquid layers“, QLL), man fand auch eine Hypothese, die der „Oberflächenschmelze“: Die äußerste Schicht sei instabil, weil sie die äußerste ist und nicht von allen Seiten zusammengehalten wird.

Prüfen lässt sich das schwer, die Schicht ist nanometerdünn, manche Messverfahren in diesem Bereich funktionieren nur im Vakuum, da würde Eis sublimieren, in Wasserdampf übergehen. Trotzdem hat Ken-ichiro Murata (Sapporo) das Geschehen mit Mikroskopen vor Augen bekommen. Die gingen ihm über: Die Schmelze ist keine, der Terminus trügt. QLL kommen nicht aus dem Eis, sondern aus der Umgebungsluft (außer wenn sie extrem trocken ist). Sie sind auch nicht immer da und nicht immer gleich, sondern überziehen einmal die ganze Oberfläche, beschränken sich ein anderes Mal auf einzelne Punkte, bisweilen haben die eine Form wie ein Spiegelei (Pnas 17. 10.). Aber allein klären kann die Oberflächenschmelze das Phänomen der Gleitfähigkeit auch nicht, die Schicht ist zu dünn. Und so richtig rutschig wird Eis ohnehin erst dann, wenn man noch Wasser darauf schüttet. Das nutzten chinesische Baumeister 1492 für die Errichtung der Verbotenen Stadt in Peking. Die Steine mussten über 70 Kilometer heranbefördert werden, der wuchtigste hatte 300 Tonnen: „Er wurde transportiert, indem man im Winter den Boden mit Wasser bespritzte und eine Straße aus Eis baute.“ So steht es im Palastmuseum, und so könnte es gewesen sein, Howard Stone (Princeton) hat es durchgerechnet, für einen 123-Tonnen-Brocken (Pnas 110, S. 20023): Hätte man diesen auf festem Grund ziehen wollen, hätten ihn 1500 Männer nicht vom Fleck gebracht. Aber auf Eis, das noch mit Wasser geschmiert wurde, hätten 46 gereicht. Sie hätten nur unentwegt ziehen müssen, Tag und Nacht, festfrieren hätte der Stein nicht dürfen, sonst hätte ihn erst das Frühjahr wieder freigegeben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2017)

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