Im Nachhinein ist jeder gescheiter

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Da man vorhandenes Wissen nicht ausblenden kann, wird in einem Schadenersatzprozess die Beurteilung des Richters leicht beeinflusst. Eine Fallstudie will nun „Rückschaufehler“ bewusster machen.

„Ich hab dir gleich gesagt, dass du da stolpern wirst!“ Im Nachhinein ist jeder gescheiter und alle wollen gewusst haben, dass etwas schiefgehen musste. Das nennt man Rückschaufehler: Man kann erlangtes Wissen nicht ausblenden und beurteilt in der Rückschau Dinge anders. Wenn ich weiß, dass jemand über das Kabel gestolpert ist, schätze ich die Vorhersehbarkeit des Unfalls als viel wahrscheinlicher ein. „Der Rückschaufehler ist aus der Psychologie seit den 1970er-Jahren bekannt“, sagt Alexander Schopper von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Innsbruck.

Auf Anregung der Wiener Kanzlei Knoetzl, die dem Rückschaufehler im Gerichtssaal wiederholt begegnete, wurde dieser nun wissenschaftlich aufgearbeitet. „Das Recht in Österreich und in ganz Europa verlangt bei einem Schadenersatzprozess, dass der Schädiger danach beurteilt wird, wie die Situation zum Zeitpunkt vor der schädigenden Handlung war“, so Schopper. Ein Richter muss sich bei seiner Urteilsfindung in das Wissen hineinversetzen, das man vor Eintreten des Schadens hatte. Jeder, der mit dem Prozess zu tun hat, kennt aber den üblen Ausgang und kann dies kognitiv nicht ausblenden.

Das Dilemma ist in der Arbeit von Anwälten, Richtern und Versicherern täglich präsent. Darum starteten die Anwältin Bettina Knötzl, die Dozentin der Uni Wien Judith Schacherreiter und Alexander Schopper eine Fallstudie, die nun im heimischen Fachmagazin „Juristische Blätter“ veröffentlicht wurde: Ändert sich die Urteilsfindung, wenn man Juristen klar macht, dass der Rückschaufehler ihre Einschätzung beeinflusst? Als Beispiel diente ein Schadenersatzfall, bei dem sich eine junge Frau auf einem Eislaufplatz schwer verletzt hatte. Dort war zur Abtrennung zweier Bereiche ein Seil quer über die Eisfläche gespannt: Als Eisläufer die Absperrung übertraten kam das Seil stark ins Schwanken und verursachte so den Unfall. Ein Landesgericht hatte der Klägerin Schadenersatz zugesprochen, doch der Oberste Gerichtshof entschied nicht zu ihren Gunsten.

168 Studenten der Uni Innsbruck, Uni Linz und WU Wien wurden nun nach der Sorgfaltspflicht des Eislaufplatzbetreibers befragt. Eine Gruppe kannte den Vorfall, hatte also den Wissensstand wie ein Richter. Die weitere Gruppe wusste nicht, dass hier ein Unfall passiert war. Und die dritte Gruppe kannte den Fall, wurde aber im Fragebogen darüber aufgeklärt, dass es den Rückschaufehler gibt, der die Einschätzung verändern kann, und man sich vorstellen sollte, nichts vom Unfall zu wissen.

Wichtig für Urteilsbegründung

Die Gruppe, die den Wissensstand des Richters hatte, gab zu 71 Prozent an, das Verschulden beim Eislaufplatzbetreiber zu sehen: Er hätte die Absperrung besser sichern müssen. Die Gruppe, die nicht wusste, dass hier etwas passiert war, entschied mit nur 53 Prozent, dass die Sorgfaltspflicht des Betreibers nicht eingehalten wurde. Und die Gruppe, die sich den Rückschaufehler bewusst gemacht hatte, entschied nur zu rund 30 Prozent, dass der Betreiber schuld am Unfall der jungen Frau war.

„Der Rückschaufehler hat Auswirkungen auf die Urteilsfindung: Aber das Problem ist gesetzlich überhaupt nicht geregelt und kaum wissenschaftlich untersucht“, sagt Bettina Knötzl. „Wir schlagen vor, dass Richter sich den Rückschaufehler bewusster machen.“ Sie sollten in der Urteilsbegründung ein, zwei Sätze zu dem Problem der Vorher-nachher-Perspektive niederschreiben. „Wenn der Rückschaufehler nicht beachtet wird, kann man gegen die erstinstanzliche Entscheidung in Berufung gehen“, so Schopper. Und das gilt nicht nur für Unfälle, sondern für alle Schadenersatzfragen. Etwa auch dann, wenn ein Geschäftsführer wirtschaftlich unvernünftige Entscheidungen getroffen hat: War es vorab ersichtlich, dass die Investition negative Folgen haben würde?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.02.2017)

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