Bahn frei für das Mittelmaß

Wien Hauptbahnhof
Wien Hauptbahnhof(c) Die Presse - Clemens Fabry
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Ein Architekturwettbewerb für das 250 Millionen Euro teure Gebäude fand nie statt. Man merkt es dem Ergebnis an. Zu Wiens neuem Hauptbahnhof.

Auf der Strecke Wien–Linz–Salzburg hat die Bahn den PKW längst als schnellstes Verkehrsmittel überholt. Eine gefühlte Stunde nach Linz, zwei nach Salzburg, vier nach München: Solche Zahlen verändern die mentale Landkarte. Die Bahn hat in dieser Hinsicht eine große Tradition. Schon im 19. Jahrhundert spielte sie als Katalysator der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung eine ähnliche Rolle wie heute das Internet. Entsprechend eindrucksvoll waren damals auch die Bahnhöfe. Angelegt am Rand der bestehenden Städte waren sie hybride Gebäude, in denen sich Architektur und Ingenieurwesen auf eine sehr spezielle Art begegneten: Zur Stadt hin zeigten sie Palastfassaden, hinter denen sich Meisterwerke der Ingenieurskunst verbargen, die größten und am weitesten gespannten Hallen, die bis dahin errichtet worden waren.

Im heute weitgehend elektrifizierten Betrieb muss ein Fernbahnhof freilich nicht unbedingt aussehen wie eine Kathedrale der Industriegesellschaft. Vom praktischen Gesichtspunkt her ist er eine bessere Schnellbahnstation mit vielen Gleisen und höherer Besucherfrequenz. Letztere hat allerdings einen wichtigen Seiteneffekt: Wo viele Menschen unterwegs sind, entsteht heute fast zwangsläufig ein Shoppingcenter. Dass die Eröffnung des Wiener Hauptbahnhofs vor zwei Wochen eigentlich die Eröffnung des Shoppingbetriebs feierte und nicht die Inbetriebnahme der Gleise für den Fernverkehr, die erst im Dezember folgen wird, spricht für sich.

Städtebaulich ist die Lage des neuen Bahnhofs eine Herausforderung. Als Durchgangsbahnhof scheint er selbst auf der Durchreise zu sein. Seine Ausrichtung folgt der optimalen Kurve des Gleiskörpers, ohne sich besonders um den umliegenden Stadtraum zu kümmern. Dazu kommt das Problem, dass die U-Bahnlinie U1, die den Bahnhof an den öffentlichen Verkehr anschließt, relativ weit entfernt liegt und die Gleise nicht in der Mitte, sondern am westlichen Ende erschließt. Hätte man den Bahnhof zurückversetzt, um einen größeren Vorplatz zu schaffen, wäre diese Distanz, die schon jetzt knapp 500 Meter Gehweg bis zu den Gleisen bedeutet, weiter gewachsen.

Alle weiteren städtebaulichen und architektonischen Entscheidungen in diesem Projekt müssen als Versuche verstanden werden, aus dieser Situation das Beste zu machen. Manches ist gelungen: Der lange Weg zur U-Bahn ist abwechslungsreich und zumindest punktuell natürlich belichtet. Die Verbindung der beiden Bezirke Wieden und Favoriten unter dem Gleiskörper ist an mehreren Punkten hergestellt, nicht zuletzt durch die innere Passage, die auf der einen Seite Geschäfte und auf der anderen die Aufgänge zu den Gleisen erschließt. Sie mündet auf der Favoritner Seite in einen zweiten Bahnhofsvorplatz, an dem auch das Hochhaus der ÖBB-Zentrale liegt. Der Bahnhof verbindet damit die beiden Bezirke als gleichwertig, ohne eine Vorder- und eine Rückseite auszubilden. Auch eine Bahnhofshalle gibt es: Sie schmiegt sich seitlich an den Gleiskörper und wird an beiden Stirnseiten von großen Glaswänden abgeschlossen.

Auf der Glaswand zum Südtiroler Platz klebt eine Uhr mit vier Meter Durchmesser, die der alten Uhr an der Wand des Südbahnhofs nachempfunden ist. Dasselbe gilt für den Schriftzug, und im inneren der Halle ist der kleine Markuslöwe aufgestellt, der als letztes Relikt des im Krieg zerstörten Südbahnhofs erhalten blieb. Dass die Uhr auf der Glaswand, von der Rückseite her betrachtet, die verkehrte Zeit anzeigt, ist symptomatisch. Hier wird mit historischen Versatzstücken Stimmung gemacht, statt technische Infrastruktur auf der Höhe der Zeit zu konzipieren. Trotz hohem Aufwand reicht es architektonisch gerade noch fürs Mittelmaß.

Dasselbe gilt für die Überdachung der Bahnsteige. Die weit gespannte Stahlkonstruktion besteht geometrisch aus fünf ineinander verzahnten Bändern, die konstruktiv als 14 jeweils 76 Meter lange rautenförmige Elemente mit einem zentralen Oberlicht ausgebildet sind. Durch die wellenförmige Verzahnung der Bänder entstehen zusätzlich seitliche Belichtungsfelder. Das Dach schwingt sich über den Aufgängen zu den Bahnsteigen auf beachtliche 15 Meter Höhe auf, läuft Richtung Osten gemächlich auf die Höhe normaler Bahnsteigdächer aus. Alle 38 Meter tragen massive schräge Stützen die Last des Stahldachs in den Boden ab.

Aus der Vogelperspektive wirkt dieses Dach relativ klar. Aus der Perspektive der Besucher dominiert aber die skulpturale Wirkung der Einzelteile, die kein Ganzes ergeben. Die Auf- und Abbewegung aller Elemente und die leichte Krümmung der Gesamtanlage tragen dazu bei. Man fühlt sich nicht geschützt unter einem Dach, sondern wie ein Zwerg, der unter eine Herde von Wasserbüffeln mit stämmigen Beinen geraten ist, die ihre Bäuche aneinander reiben. Die Planer sind stolz darauf, dass hier so viel Stahl verbaut wurde wie im Eiffelturm. Man hätte sich besser Bahnhöfe wie Salzburg oder Dresden zum Vorbild nehmen sollen, leichte Konstruktionen mit Dächern aus Kunststoffmembranen.

Wer der Frage nachgeht, von wem dieser Entwurf stammt, kommt zu einem überraschenden Ergebnis. Im Jahr 2004 kürte eine Jury in einem städtebaulichen Wettbewerb für das Bahnhofsareal zwei Preisträger ex aequo, das Team Theo Hotz/Ernst Hoffmann und Albert Wimmer. Beide hatten in ihren Modellen die Bahnhöfe als Baukörper angedeutet: Wimmer als eine Kiste ähnlich jener, die er am Praterstern realisiert hat, Hotz/Hoffmann als Fantasiegebilde aus Bandnudeln. Als wenig später die Ingenieurleistungen für den neuen Bahnhof und die Gleisanlagen vergeben wurden, waren Hotz/Hoffmann und Wimmer als Teil eines Konsortiums dabei: Bandnudeln und Kiste entwickelten sich zum Rautendach. Ein Architekturwettbewerb für das 250 Millionen teure Bahnhofsgebäude fand nie statt. Man merkt es dem Ergebnis an.

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