Damen mit spitzen Zungen

Betty Paoli war eine der ersten „freien“ Literatinnen Österreichs. Galt sie bisher als Avantgardistin des Feminismus, so rückt Claudia Erdheim in ihrem Roman einen anderen Aspekt ins Zentrum: „Betty, Ida und die Gräfin“ oder die Kunst als Kitt der Gesellschaft.

Mit einem Roman über ihre galizischen Vorfahren hat Claudia Erdheim Erfahrung in historischer Recherche gesammelt, nun hat sie sich literarische Zirkel des 19.Jahrhunderts vorgenommen. Im Zentrum dieses Panoramas, in dem unter anderem ein grantiger Grillparzer, ein süßlicher Saar und ein (experimentier-)freudiger Freud (Koks) auftreten, steht das Leben einer der ersten unabhängigen Intellektuellen Österreichs, Betty Paoli.

Sie hatte weder Eltern noch Vermögen und musste sich als Gesellschafterin und Übersetzerin durchschlagen. Aber sie verfügte als Tochter eines Militärarztes über einen Grundstock an Erziehung und Bildung und über ein beträchtliches Ausmaß an sozialer Intelligenz. An ihrem 70.Geburtstag gratulieren nicht nur der Schriftstellerinnenverband und der Wiener Bürgermeister, sondern zahlreiche Persönlichkeiten aus Adel, Kunst und Wissenschaft, bis hinauf zum Kronprinzenpaar. Marie Freifrau Ebner von Eschenbach soll sogar verbreitet haben, dass die Paoli eigentlich ein illegitimes Kind des Fürsten Nikolaus von Esterházy gewesen sei.

Während Ebner-Eschenbachs (von 1830 bis 1916) Erzählungen als Schullektüre und in zahlreichen Verfilmungen bis heute präsent sind, hat das Werk von Barbara Elisabeth (Betty) Glück (von 1814 bis 1894) erst in diesem Jahrtausend wieder öffentliche Aufmerksamkeit unter feministischen Gesichtspunkten erfahren: vor allem ihr Leben als unverheiratete, berufstätige Frau. Sie hat unter dem Künstlernamen Betty Paoli ein lyrisches Werk, Novellen, Buchbesprechungen, Theaterkritiken und Aufsätze hinterlassen.

Am bekanntesten ist heute vermutlich der Titel „Was hat der Geist denn wohl gemein mit dem Geschlecht“, den die Redakteurin der Frauenzeitschrift „AUF“, Eva Geber, 2001 herausgegeben hat. Entgegen dieser Rezeption rückt Claudia Erdheim in ihrem Roman „Betty, Ida und die Gräfin“ die Kunst als gesellschaftlichen Kitt einer Schicht und Epoche in den Fokus. Sie bringt die jüdische Kaufmannsgattin und Mäzenin Ida Fleischl ins Spiel, bei deren Familie Betty Paoli tatsächlich fast 40 Jahre ihres Lebens verbracht hat. Damit erweitert sie das Spektrum weiblicher Biografien des 19.Jahrhunderts um eine entscheidende Facette.

Ida Fleischl hat vier Söhne und sucht als wohlhabende Bürgerliche den Kontakt zu Künstlern, die sie unterstützt und deren Werke sie kommentiert. Den Schritt zur eigenständigen Literatin wagt sie aber nicht. Gattungsspezifisch überschneidet sich der – laut Verlagsangabe – historische Roman in vieler Hinsicht mit dem Gesellschaftsroman. Deshalb wird in Erdheims Roman ein zeitgenössisches Kunstverständnis vor dem gesellschaftlichen Hintergrund des 19.Jahrhunderts in Szene gesetzt. In den knappen Sätzen der Autorin finden sich Adjektive, die dem Pathos der Zeit entsprechen: Die Figuren eilen zueinander, weilen auf Kur, sind enthusiasmiert oder freuen sich kannibalisch. Beiläufig erwähnt die Gräfin aber gegenüber Ida auch, dass die Saloniére Flora Galliny die Gedichte, die Betty ihr öffentlich widmet, schrecklich fände. Die drei spitzzüngigen Damen der Gesellschaft, die beim Tarockieren Gift über ihre literarischen Rivalen und Förderer versprühen, sind selbst nicht frei von Marotten.

Bettys Liebe zu den konkurrierenden Burgtheater-Schauspielern Ludwig Gabillon und Joseph Lewinsky schwankt im Stundentakt der hin- und hergeschickten Briefe zwischen exaltierter Begeisterung und Todessehnsucht. Ida macht sich Vorwürfe, in der Erziehung versagt zu haben, da ihre älteren Söhne nach Kokain beziehungsweise Chloralhydrat süchtig sind, und die Gräfin muss, um inkognito zu bleiben, tief verschleiert in ihren eigenen, ohne die Angabe eines Verfassers aufgeführten Theaterstücken sitzen.

Neben der Stimmung des Vormärz, den noblen Kurbädern, den Schwierigkeiten, die bevorzugte Zigarrenmarke zu erstehen – dennalle drei Damen sind passionierte Raucherinnen –, kommen auch die Lebensumstände der weiblichen Dienerschaft ins Blickfeld. Während Juden zu Anfang des Jahrhunderts nur jüdische Frauen in ihrem Haushalt beschäftigen durften, kann Ida später eine „Perle“ aus Böhmen als Köchin ins Haus holen. Durch deren ängstliche Ausrufe bekommt sogar der Ausbruch einer Choleraepidemie eine humoristische Note.

Über die Begegnungen der drei Protagonistinnen hinaus bietet der Roman ein präzises Bild der gesellschaftlichen Umstände und Umwälzungen, etwa angesichts der Strapazen, die der aus Pest stammende Jude Carl Fleischl auf sich nehmen muss: Anfangs muss er alle 14 Tage bei einer Linie der Stadt hinaus und bei einer anderen – ausgestattet mit Schmiergeld – wieder hinein, um sich in Wien niederlassen zu dürfen. 1875 wird er dann als Inhaber der Wiener Pferdetramway sogar in den Adelsstand erhoben. Sein ältester Sohn, Ernst Fleischl Edler von Marxow (von 1846 bis 1891), gilt noch heute als bedeutender österreichischer Physiologe und Erfinder. Bei einer Obduktion an der Hand infizierte er sich mit Leichengift, weshalb ihm ein Daumen amputiert werden musste.

Dieser und nachfolgenden Operationen widmet die Großnichte des Pathologen Jakob Erdheim detaillierte Beschreibungen damaliger Chirurgie. Dabei kommt der später bedeutende Theodor Billroth nicht gut weg – und befindet sich in guter Gesellschaft. ■

Claudia Erdheim

Betty, Ida und die Gräfin

Die Geschichte einer Freundschaft. Roman. 352S., geb., €24,90 (Czernin Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.04.2014)

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