Geld und Gefühle

Im Roman „Die Chance“ erweist sich Stewart O'Nan erneut als feiner und unaufdringlicher Erzähler von Schicksalen der US-Mittelschicht. Diesmal muss sich ein Paar mit den Folgen der Rezession von 2008 herumschlagen.

Wie macht er das bloß? Jedes Jahr, oder zumindest jedes zweite, ein neues Buch auf den Markt zu bringen. Ein Roman nach dem nächsten, ab und zu ein Erzählungsband. Und jedes Mal bleibt ihm seine Leserschaft dicht auf den Fersen. Die Kritiker applaudieren, die Buchhandlungen greifen beherzt zu, die Übersetzer in aller Welt sitzen rasch nach Erscheinen der amerikanischen Ausgabe an der Arbeit. Man könnte beinahe meinen, Literatur wäre seriell produzierbar, und mit ihr auch der sichere Erfolg.

Stewart O'Nan jedenfalls scheint zu wissen, wie das funktioniert, ohne dass man ihm so leicht auf die Schliche kommen kann. Sein jüngster Roman, „Die Chance“, läuft dahin wie auf Schienen, ohne auf bewährte Vorlagen zu setzen, sich zu wiederholen und damit ein Schnittmuster offenzulegen. Wieder einmal schreibt der 1961 in Pittsburgh, Pennsylvania, geborene O'Nan an seinem Porträt der nordamerikanischen Mittelklasse weiter.

Mittlerweile kennen wir ja schon die Jugendlichen und ihre selbstzerstörerischen Abenteuer auf dem Weg zum Erwachsenwerden, wir haben fassungslose Eltern beobachtet und renitente Großmütter, die gegen eine Gesellschaft, in der nur kalte Effizienz zählt, aufbegehren. O'Nan hat diese ganz alltäglich anmutenden Themen zu packenden, politisch subtilen Romanen gebündelt: Es sind Zeitreisen in die USA des ausgehenden 20. und beginnenden 21.Jahrhunderts.

Diesmal macht er sich an die Beschreibung einer Epoche, in der das Selbstbewusstsein und der an Naivität grenzende Optimismus der Vereinigten Staaten von Amerika unwiederbringlich ins Wanken geraten sind. Hauptfiguren des Bandes sind Marion und Art Fowler, seit Ewigkeiten verheiratet. Die beiden sind in ihren Fünfzigern und hatten über eine lange Zeit alles, was ein entspanntes Leben zu garantieren schien: einen guten Job, zwei wohlgeratene, inzwischen erwachsene Kinder, ein Haus mit Garten, das man gemächlich abzahlte. Bis 2008 die Rezession über das Land hereinbrach. Art verlor seinen Arbeitsplatz ohne Aussicht auf einen neuen.

Seither schlägt er sich durch. Kredite fressen die Ersparnisse auf, und mit ihnen den Glauben an eine Wende. Trotzdem entschließen sich die Fowlers, es in den Tagen rund um Valentin nochmals krachen zu lassen und zu den Niagarafällen zu reisen, wo sie dereinst ihre Flitterwochen verbracht haben: ein desillusioniertes Paar, am Rand des Absturzes. Eine letzte Chance wollen sie einander noch geben. Art meint, ein System gefunden zu haben, mit dessen Hilfe er beim Roulette dauerhaft gewinnen kann. Nun hat er sein ihm noch verbliebenes Kapital zusammengekratzt, die Hochzeitssuite eines guten Hotels gebucht und sich mit Marion in den Bus nach Kanada gesetzt.

„The Odds“ heißt O'Nans Roman auf Englisch. Im Originaltitel steckt auch das Wort „Reste“. Und das trifft die Situation fast besser als die „Die Chance“: Art und Marion stehen vor den Trümmern ihrer Ehe und lesen deren Scherben auf. „Getrieben von hohen Schulden, von Unschlüssigkeit und, törichterweise, mehr oder weniger insgeheim, von der unterschwelligen Erinnerung an ihre Untreue, flohen Art und Marion Fowler am letzten Wochenende ihrer Ehe aus dem Land.“

Eine Liebe in Zeiten der Krise

Ein Satz nur, der Auftakt des Buches, und wir sind gefangen. O'Nan schafft es immer wieder, uns in wenigen Zeilen in fremde Biografien zu ziehen und diese so sinnlich vorzuführen, als wären wir allerorts mit von der Partie: bei den Gesprächen im Bus, im Hotelzimmer oder auf der Aussichtsplattform der Niagarafälle, ebenso bei den vorsichtigen Überlegungen der Eheleute, wohin es nach dieser Reise wirklich gehen soll. O'Nan braucht keine dramatischen Szenen, um Drama herzustellen, er vertraut allein seiner lakonischen Sprache und dem Unausgesprochenen, um zu zeigen, wie brüchig der Boden ist, auf dem wir alle dahintänzeln.

Eigentlich scheint klar, dass die Ehe der Fowlers am Ende ist. Wobei Art Zweifel hat: Lässt sich vielleicht doch noch etwas retten? Oder verschwindet ohnehin alles, worauf er und Marion und ihre Generation fest gebaut haben, auf Nimmerwiedersehen in den Fluten des Niagara? Umgekehrt überlegt sich Marion jede kleinste Geste der Zuneigung, aus Sorge, sich damit auf Glatteis zu begeben und falsche Hoffnung zu wecken.

Die frühere Unbefangenheit ist verschwunden, die Gefühle ducken sich unter der Last der Jahre, unter dem ökonomischen Druck und den Vorwürfen an sich selbst, gleich auf mehreren Ebenen versagt zu haben und nun in einer Sackgasse festzustecken. Die Selbstbeschwichtigungsstrategien gehen ins Leere, das Fehlen der Perspektiven verstört: Das ist nichts, worauf die beiden vorbereitet gewesen wären.

„Die Chance“ geht beim Lesen ziemlich an die Nieren, gerade weil der Roman so sorgsam und zurückhaltend agiert. O'Nan ist ein souveräner und darin feiner Erzähler, der seine Mittel unaufdringlich und mühelos einsetzt. Er wechselt Zeit und Perspektiven unglaublich präzise und springt in winzigen Erzählsplittern zu den Szenen einer Ehe zurück. Die erste gemeinsame Wohnung, damals noch ohne Trauschein, der Kauf des Hauses, die finanziell und damit auch emotional immer angespannteren Zeiten.

Arts Affäre mit einer Kollegin, eine Leidenschaft, die seine Ehe aus den Angeln zu heben droht, Marions Rache, als sie mit einer Frau ins Bett geht. Das alles kommt fast beiläufig daher, oft mit hintersinnigem Witz. Denn das Eigentliche sind die winzigen Schritte, mit denen sich die beiden durch die Tage tasten. Wie weit soll man sich nochmals aufeinander zubewegen? Gibt es noch ein Versprechen, zu dem man weiterhin stehen kann?

Die deutschsprachige Ausgabe, von Thomas Gunkel stimmig übersetzt, verzichtet auf den amerikanischen Untertitel „A Love Story“. Wer O'Nan kennt, weiß, wie doppelbödig solche Zuschreibungen bei ihm sind. „Eine Liebesgeschichte in Zeiten der Krise“, das würde es noch besser treffen. Der Band läuft auf ein furioses Finale zu, setzt nochmals alles auf eine Karte – und gewinnt auf allen Ebenen.

Eigentlich, so hat der Autor in einem Interview erklärt, wollte er dem Buch noch ein Nachspiel folgen lassen: die Beschreibung, wie die Fowlers nach Hause zurückkehren und sich dort in ihrem lädierten Leben einrichten. Doch dann habe er beschlossen, den Abspann in die Hände seiner Leser zu legen. Sollten sie doch selbst spüren, wie es weiterläuft, und sich einen Reim darauf machen, wie Geld und Gefühle zusammengehen. Buchdeckel zu. Die Auseinandersetzung mit dem Buch aber ist noch lange nicht zu Ende. ■

Stewart O'Nan

Die Chance

Roman. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. 224 S., geb., €20,60 (Rowohlt Verlag, Reinbek)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.