Blutspur durch Texas

„Der erste Sohn“: Philipp Meyer entwirft ein Mosaik von Szenen über 150 Jahre, in deren Zentrum die reiche weiße Familie McCullough in Texas steht. In Nebenrollen: gute und böse Komantschen und Mexikaner.

Der 1974 geborene Philipp Meyer erhielt für seinen zweiten Roman, „The Son“, der nunmehr als „Der erste Sohn“ auch auf Deutsch vorliegt, enthusiastisches Kritikerlob, bei dem wieder einmal von der Great American Novel geraunt wurde. Es ist in der Tat ein überaus ehrgeiziges Unterfangen von Philipp Meyer, einen Texas-Roman zu schreiben, indem er über einen Zeitraum von rund 150 Jahren ein Mosaik von Szenen aus den Leben verschiedener Mitglieder der Familie McCullough aufbietet und sie gewissermaßen zu Repräsentanten des reichen weißen Texas werden lässt, in die er Lebensbilder von Komantschen und Mexikanern verwebt. Der Clan hat sich letztlich dank des Erdöls und zahlreicher anderer Firmeninvestments sowie durch rohe Gewalt von Viehdieben und Rinderzüchtern, bei denen Mord und Totschlag auch an Frauen und Kindern sowie Korruption auf der Tagesordnung stand, zu ökonomisch wie politisch höchsten Einfluss ausübenden Mitgliedern der texanischen Oberschicht entwickelt.

Der 1926 geborenen Jeannie, die sich früh mit eisernem Willen in der Männerdomäne des Erdölgeschäfts behauptete, sich nie mit der Mutterrolle und der einer Dekorationsehefrau samt Charity-Aufgaben abfinden wollte und schließlich mit dem Privatjet zu Terminen fliegt, ist die rücksichtslose Raffgier noch Lebensinhalt, auch wenn sie sich ihrer Leere durchaus bewusst ist: „Und das alles wegen des Geldes. Geld, das sie nicht brauchte, Geld, das ihre Tochter nicht brauchte, Geld, das ihr Sohn nicht brauchte. Keiner, den sie kannte, brauchte Geld. Und doch würde sie offenbar alles dafür tun.“ Ihre Tochter ist drogensüchtig, der schwule Sohn verliert den Lebenspartner und wird ihm in den Tod folgen. Und Jeannie selbst, mit der es ohnehin zu Ende geht, wird in einer kinohaften Szene im Flammenmeer sterben, nachdem sie einen nicht legitimen Nachfahren ihrer Familie hinausgeworfen hat. Der Mexikaner Ulises Garcia ließ sich als illegaler Einwanderer auf der Ranch einstellen. Ausgestattet mit seine Behauptung beweisenden Papieren – auch Jeannie weiß, dass er nicht lügt –, stellt er sich als Urenkel von Peter McCullough vor. Mit dem Vornamen Ulises trägt Meyer bei der Heimkehr von Garcia etwas dick auf.

Peter McCulloughs Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1915 bis 1917 ziehen sich als ein Strang unter mehreren durch den Roman und weisen ihn als Außenseiter der Familie aus, da er intellektuell veranlagt und skrupulös zu sein scheint. Nachdem man in der Folge eines Viehdiebstahls die mexikanischen Nachbarn Garcias niedergemetzelt hat, kehrt später die einzige Überlebende des brutalen Massakers zurück – und wird die Geliebte von Peter, bevor sie von seinem Vater Eli mit dem Bedauern, dass sie seinerzeit dem Tod entkommen ist, mit Geld des Hauses verwiesen wird.

Colonel Eli McCullough bildet den Hauptstamm der Familie. 1836, im Jahr der Gründung der Republik Texas geboren, ist er sozusagen deren erster Sohn. Mit 100 Jahren werden 1936 von der amerikanischen Arbeitsbeschaffungsbehörde WPA Elis Erinnerungen auf Tonband aufgenommen. Sie liefern den pointierten Einstieg in die Geschichte: „Mir wurde vorhergesagt, dass ich 100 Jahre alt werden würde, und da ich dieses Alter erreicht habe, sehe ich keinen Grund, an dieser Prophezeiung zu zweifeln.“ Elis – bluttriefende – Biografie ist so abenteuerlich, dass die Tiefe dieses Witzes erst nach und nach sichtbar wird.

So viel Geld – und keiner braucht es

Elis Vater „traf 1832 in Matagorda ein, wie so viele in jener Zeit, für die die Gefahr, von einem Erschießungskommando getötet oder von den Komantschen skalpiert zu werden, eine Art Heilsversprechen war“. Die Siedler wagen sich ans Indianergebiet heran – die Natur ist üppig, das Land „so voller Leben, wie es dort heute von Menschen wimmelt. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, seinen Skalp zu behalten“. Er wird ihn nicht nur behalten, sondern seinerseits viele andere um ihre Skalps bringen: Nach einem Komantschenüberfall, bei dem mit Ausnahme seines nicht anwesenden Vaters die gesamte Familie umgebracht wird, kommt er als Gefangener zu den Indianern, durchläuft in der strengen Hierarchie des Stammes seine weitere Kindheit, kann sich behaupten und wird später gar zum Häuptling gewählt, nachdem eine Epidemie, gegen die er geimpft war, fast den ganzen Stamm ausgerottet hat.
Die Komantschen tragen keinen Federschmuck, flechten sich die Haare zu Zöpfen und bekämpfen die weißen Eindringlinge mit äußerster Brutalität. Sie haben nichts Schriftliches hinterlassen. Erst vor kurzer Zeit entdeckte Felszeichnungen in einer Schlucht am Rio Grande erlaubten erstmals einen Blick auf die wahre Geschichte dieses Stammes.

Beinahe mit sachbuchtauglicher Ausführlichkeit beschreibt Meyer den Alltag dieser Indianer. Die diesbezüglichen Dankadressen am Ende des Buches legen nahe, dass er sich eingehend mit den vorliegenden Forschungen beschäftigt hat. Deshalb irritiert es sehr, wenn er, der für seine Figuren durchwegs einen adäquaten – in manchen Dialogen schon nach der Großleinwand schielenden – Ton findet, die Komantschen der 1850er-Jahre mit der Unverblümtheit – und dem Slang! – von Großstadtjugendlichen des 21. Jahrhunderts sprechen lässt: „,Tja, ich bin keine Schlampe wie sie‘. ,Was für ein fetter Arsch‘, sagte sein Bruder.“ Und so weiter und so fort. Auch unverfängliche Redewendungen der Indianer stammen aus einer anderen Epoche, wenn der Häuptling Eli – bei den Komantschen heißt er Tiehteti – so begrüßt: „Wie schön, dass du kommen konntest.“

Gewohnheiten und Vorlieben der Komantschen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – schlachtwarme, mit Galle beträufelte Bisonleber ist ein Leckerbissen – sind nun allerdings von ihrer Ausdrucksweise ausreichend weit entfernt. Eli lernt vieles für das eigene Überleben und das Sterben seiner Gegner. In all seiner Blutrünstigkeit zeigt der gesamte Roman, dass es letztlich kaum Unterschiede gibt zwischen den Menschen verschiedener Hautfarbe. Nur dass die Indianer im Gegensatz zu den Weißen keine großen Besitztümer anhäufen.

In einer Notzeit wird Eli an die Regierung verkauft, lebt bei einem Richter, hat mit dessen Frau ein Verhältnis, heiratet später die Tochter, zieht in den Sezessionskrieg, bevor er sesshaft wird. Philipp Meyer springt oft über 100 Jahre von Figur zu Figur, was bei der Lektüre anfangs große Konzentration erfordert.

Mit einer breiten Blutspur schreiben die Figuren des Romans über viele eindringliche Details und großteils in bewundernswerter atmosphärischer Dichte die von einem Indianer geäußerte Binsenweisheit in das Bewusstsein der Lesenden: „Reich wird nur, wer andere bestiehlt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2014)

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