Die Essenz des Menschen

Welche Formen des Glaubens sind angemessen? Wo verletzen sie den gesellschaftlichen Moralkodex? Ian McEwan umkreist in seinem Roman „Kindeswohl“ Fragen der Beziehung von Staat und Religion und verteidigt das Recht, seinem Glauben zu folgen.

Der radikale Islam sei mörderisch und selbstgerecht und darin weltweit zu einem Magneten für Psychopathen geworden, erklärte der britische Erfolgsautor Ian McEwan am 7. Jänner 2015 auf seiner Homepage. „Das Gemetzel in Paris ist eine Tragödie für die offene Gesellschaft.“ Ein klares Statement. Angesichts seines jüngsten Romans, dessen deutschsprachige Ausgabe an ebenjenem 7. Jänner erschienen ist, bekommen Sätze wie diese eine besondere Glaubwürdigkeit. McEwan ist ein politischer Autor, das weiß man seit Langem. Das zeigt sich auch in seinem neuen Buch, „Kindeswohl“, das die Beziehung von Religion und Staat literarisch umkreist.

Wer darf darüber urteilen, welche Formen des Glaubens angemessen sind und wo sie den gesellschaftlichen Moralkodex verletzen? Und wo muss man die Vorgaben von Priestern oder Gemeindeältesten beschneiden, um den Einzelnen vor deren lebensfeindlichen Direktiven zu schützen? Das sind die Fragen, denen sich Fiona Maye zu stellen hat. Sie ist 59, Familienrichterin am Londoner High Court, kinderlos, glücklich verheiratet, beruflich am Zenit ihrer Karriere. Wiewohl rundum Ehen zerbrechen und die Scheidungen in Schlachten ausarten, glaubt Fiona an die Unauflösbarkeit der Verbindung mit ihrem Mann. Umso größer die Erschütterung, als ihr Jack an einem Sonntagabend eröffnet, dass er plane, eine Affäre zu beginnen. „Ich brauche das“, so sein Argument. „Das ist meine letzte Chance.“ Fiona ist empört.

Der Konflikt wird heftig, als das Telefon läutet: Fiona, die an diesem Wochenende Bereitschaftsdienst hat, soll bei Gericht einen äußerst dringenden Verhandlungstermin anberaumen. Es geht um Leben und Tod. Adam Henry, ein 17-jähriger Bursche knapp vor der Volljährigkeit, ist an Leukämie erkrankt. Die Ärzte schlagen Medikamente vor, die gute Therapieerfolge zu garantieren scheinen. Die durch diese Präparate hervorgerufene Anämie wird mit Bluttransfusionen aufgefangen, so die medizinische Lehrmeinung. Doch gerade das wollen die Eltern verhindern. Sie sind Zeugen Jehovas und folgen strengen Satzungen: Im Blut steckt die Essenz des Menschlichen, heißt es darin, es gilt als heilig. Entsprechend strikt ist das Verbot, fremdes Blut in sich aufzunehmen. Die Causa Henry eilt. Wenn sie nicht schnellstens geprüft wird, wird Adam sterben. Wiewohl selbst in einer emotionalen Ausnahmesituation – Jack ist mit einem Koffer abgezogen –, stürzt sich Fiona in die Vorbereitung des Prozesses.

McEwans Roman, den Werner Schmitz gewohnt souverän übersetzt hat, beschreibt die schwierigen Schritte vor, während und nach der Entscheidungsfindung. Zu den Höhenpunkten des Buches zählt das Gespräch zwischen der Richterin und dem Jugendlichen. Fiona ist ins Spital gefahren, um sich ein Bild zu machen von der Reife des Patienten. Weiß Adam, was ihn erwartet, wenn er die Bluttransfusion verweigert? Die Ärzte haben Scheu, ihm das qualvolle Sterben, das ihm bevorsteht, drastisch vor Augen zu führen. Fiona trifft auf einen intelligenten jungen Mann, der wortgewandt und mit Witz auf die Befragung reagiert. In der Sache selbst ist er unnachgiebig und darin wohl auch gut präpariert von Eltern und Gemeindeältesten. Er lehnt die Bluttransfusion ab und birgt sich in romantischen Vorstellungen von einer Art Märtyrertum: Er würde sich für die Gemeinschaft opfern und dem Teufel widerstehen.

Man beobachtet gebannt, wie subtil McEwan den Dialog inszeniert. Fiona befindet sich in einer heiklen Situation. Wie weit darf sie gehen in ihrem Amt als Richterin, inwieweit darf sie Adam überreden, sich gegen das Edikt der Zeugen Jehovas aufzulehnen und sich somit zu retten? Wo versucht sie eine unzulässige Manipulation, die zur Grenzüberschreitung wird, weil sie Adams Recht auf religiöse Überzeugungen verletzt? Und wo verliert Fiona die Distanz und agiert nur mehr als Frau, die den Teenager in den Arm nehmen und ihn dem Tod entreißen möchte: vielleicht sogar als den Sohn, den sie nie gehabt hat. Die Auseinandersetzung ist dramaturgisch souverän gestaltet, kein falscher Ton, keine unbotmäßigen Unterstellungen oder Anschuldigungen.

Zurück im Gerichtssaal, verliest Fiona das Urteil. Adams Leben sei wertvoller als seine Würde, hört man. „Er muss vor seiner Religion und vor sich selbst geschützt werden.“ Die Eltern weinen – vor Freude. Nun können sie die Schuld daran, dass man ihrem Sohn die verbotene Bluttransfusion verabreicht, dem Staat und der Gesetzgebung anlasten. Doch damit ist der Fall längst nicht ad acta zu legen.

Ian McEwan führt die Unerbittlichkeit und Härte mehrerer Konfessionen ins Feld. Er hat gut recherchiert und zögert nicht, sich in die Diskussion um Selbstmordattentäter und religiösen Fundamentalismus einzumischen. Sein Roman erzählt von Ängsten und Hoffnungen, von Glücksversprechungen und Abhängigkeiten. Gleichzeitig macht er deutlich, mit welcher Umsicht es das Recht zu verteidigen gilt, seinem Glauben zu folgen.

„Göttliche Distanz, teuflische Klugheit, und dabei immer schön“, so hat man Fiona in der Kollegenschaft gerühmt. Doch auch sie ist nicht unfehlbar. Als Adam ihre Nähe sucht, geht sie nicht oder nicht richtig darauf ein. Mit fatalen Folgen. Bei Ian McEwan kommt eben niemand ungeschorendavon. Jeder, selbst Fiona, mag dann selbst über sich richten. ■

Ian McEwan

Kindeswohl

Roman. Aus dem Englischen von
Werner Schmitz. 224 S., geb., € 22,60 (Diogenes Verlag, Zürich)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2015)

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