10,0

In drei Turnbewerben gewann die „olympische Lolita“ 1976 Gold, Silber und Bronze. Die Rumänin Nadia Comaneci wurde weltberühmt. Lola Lafon macht aus dem Leben der Turnerin einen Roman, der zwar berührt, sie aber auch instrumentalisiert.

Bei den Olympischen Sommerspielen 1976 in Montreal trug sich im Turnbewerb etwas Unerhörtes zu. Ein 14-jähriges Mädchen aus Rumänien errang als erste Turnerin der Geschichte auf dem Stufenbarren eine Wertung von 10,0. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis das Ergebnis offiziell war, denn die Anzeigetafeln waren auf zweistellige Noten nicht eingerichtet. Die rumänische Delegation war angesichts der angezeigten Note 1,0 fassungslos und verzweifelt. Der schwedische Punkterichter verkündete endlich das wahre Ergebnis: Die 1,0 war eine 10,0. Die Höchstnote galt bis dahin als unerreichbar und war noch nie vergeben worden. Die „olympische Lolita mit der Figur eines kleinen Jungen“ (so die Presse) hatte mit einem Mal die Turnwelt auf den Kopf gestellt.

In der Folge gewann die kleine Rumänin mit dem ernsten Blick Gold auf dem Schwebebalken und im Mehrkampf, Silber im Mannschaftsturnen und Bronze auf dem Boden. Weltweit wurde sie mit Ehrungen überhäuft, in Rumänien stieg sie zueiner Nationalheldin auf. Ihr Name: Nadia Comaneci. Die Turnerin stammte aus der Region Moldau nördlich von Bukarest. 1965 erhieltOneşti, das nachdem Krieg zu einem Zentrum der chemischen und ölverarbeitenden Industrie ausgebaut wurde,den Namen des seit 1947 regierenden kommunistischen Staatsoberhaupts, Gheorghiu-Dej, verliehen. 30 Jahre später, nach dem Sturz der Ceauşescu-Regierung, wurde die Stadt in Oneşti rückbenannt. Dass die Ausnahmeturnerin aus einer Paradestadt des rumänischen Sozialismus stammte, kam der Parteiführung und der von ihr betriebenen Jugendkampagne sehr gelegen.

Der Roman der rumänisch-französischen Autorin und Sängerin Lola Lafon über Rumäniens berühmteste Tochter machte in Frankreich Furore und wurde durch das deutsche Feuilleton gereicht. Teils berührt der Text den Leser, teils lässt er ihn ennuyiert zurück. Der Roman erhebt nicht den Anspruch, das Leben der herausragenden Turnerin historisch nachzuzeichnen. Daten, Orte und Ereignisse stimmen zwar mit den Tatsachen überein, die Freuden und Ängste der kleinen Turnerin, die sich durch überragendes Talent, eine unglaubliche Härte zu sich selbst und ihre Anmut auszeichnet, sind aber ebenso erfunden wie die Dialoge der Autorin mit der seit 1989 in den USA lebenden Nadia Comaneci. Damit ist auch schon die problematische Seite des Buchs skizziert. Wer einer zeitgenössischen historischen Figur nicht nur eine erfundene Psyche, sondern über viele Seiten auch erfundene Dialoge mit der Autorin unterjubelt, spekuliert mit der Prominenz der Figur und borgt sich somit Bedeutung für seinen Text, der sonst nicht auf eigenen Füßen stehen könnte. Einerseits kritisiert die Autorin den politischen Missbrauch der Mädchen, andererseits sind die Turnerinnen auch für sie nichts anderes als Projektionsflächen eigener Vorstellungen.

Der Roman weist durchaus eindringliche Passagen auf, so die Beschreibung des bitteren Alltags der Turnsoldatinnen, der ewige Drill, die ständigen Demütigungen und Beleidigungen durch die Trainer, die immer neue, zum Teil lebensgefährliche gymnastische Figuren einfordern. Der Speiseplan der kleinen Sportlerinnen gleicht einer an Hungerfolter, ersonnen von einem Regime der Überwachung und Bestrafung. Jedes Gramm Fett eine Katastrophe, der geringste Brustansatz ein Skandal. Über allem hängt die Furcht vor der ersten Menstruation, die das Ende der Kleinmädchenturnerei besiegelt und die jungen Frauen in tiefe Verzweiflung stürzt, da mit dem Ende der Turnkarriere auch ihre privilegierte Existenz mit all den Reisen, der modischen Kleidung und den Westautos für die Eltern endet.

Die Entourage aus Geheimdienstlern, Trainern und Sportpolitikern ist sparsam mit Lob und unerbittlich in den Vorwürfen. Den Mädchen, die täglich ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, werden permanente Dankbarkeit und absolute Loyalität eingebläut. Die Turnerinnen haben Leistung zu erbringen, und wenn das Abendessen aus drei Blättern Salat und einer dünnen Scheibe Wurst auf einem Miniaturbrot bestehen und die Mädchen vor Hunger und Erschöpfung vom Sessel fallen, so dient all das einem höheren Zweck: der Steigerung eines ohnehin hysterischen Nationalstolzes.

Die Charakterisierung des brutal-sentimentalen Trainers Béla Károlyi, einem Angehörigen der ungarischen Minderheit, folgt den biografischen Eckdaten. Dieser Mann ist ein Mephisto des Turnsports. Wenn du dich mir mit Haut und Haar auslieferst, mache ich dich zur Olympiasiegerin und zum Superstar in Rumänien, lautete sein Angebot, das gleichzeitig auch ein perfektes Druckmittel war. Mit großer Schlauheit und einer Extraportion Fanatismus formt der Trainerzampano die erfolgreichste Turnmannschaft seiner Zeit.

Nach jedem Wettbewerb muss er vor einem Ausschuss des Politbüros, manchmal auch bei Ceauşescu selbst zum Rapport antreten und Lob angesichts großartiger Siege oder vernichtende Kritik bei zweiten Plätzen über sich ergehen lassen. Seinen Mädchen gegenüber pendelt er zwischen der Rolle eines erbarmungslosen Zuchtmeisters und der eines fürsorglichen Vaters. Der „größenwahnsinnige Prahlhansund egoistische Materialist“, der sich früher oder später „in den Westen absetzen wird“ (damit rechnete die Geheimpolizei), prägt das rumänischeMädchenwunder inder Welt eines bizarren Hochleistungssports maßgeblich mit. Tatsächlich bleibt Béla Károlyi nach einem Wettkampf in den USA und schafft es nach einer Durststrecke von zwei Jahren, auch in der neuen Heimat eine erfolgreiche Turnerriege aufzubauen. Seine Methoden hat er nicht geändert.

Bei den Olympischen Sommerspielen 1980 in Moskau gewinnt Nadia Comaneci noch einmal Gold auf dem Schwebebalken und auf dem Boden sowie Silber im Mehrkampf und im Mannschaftsturnen. Im Jahr darauf erklärt sie ihren Rücktritt vom Wettkampfsport. Acht Jahre später emigriert auch sie in die USA und heiratet dort den amerikanischen Turnolympiasieger Bart Conner. Die beiden leben in der Nähe von Oklahoma City betreiben ein Gymnastik- und Sportzentrum und engagieren sich für die Paralympics und für Kinder, die an Muskeldystrophie erkrankt sind. Das allerdings erfährt man in diesem Roman nicht. ■

Lola Lafon

Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte
Roman. 280 S., geb., €20,60 (Piper
Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2015)

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