Undine in der Kirche

Marlen Schachinger fabuliert, lügt das Blaue vom Himmel herunter, mischt Realität mit Irrealität und hat keine Scheu vor ungeheuerlichen Behauptungen: „Albors Asche“, ein parabelhaftes Märchen im Horrorgewand.

Marlen Schachinger schüttelt in „Albors Asche“ den Undinen-Stoff kräftig durch und zeichnet eine Diktatur von Bürgermeistern: ein parabelhaftes Märchen im Horrorgewand. In ihrem Institut für Narrative Kunst im niederösterreichischen Land um Laa hält Marlen Schachinger leidenschaftliche Plädoyers für ein hemmungsloses Fabulieren, die Studenten sollen „das Blaue vom Himmel herunterlügen“ und „dem Wahnsinn des Alltags sprachlich ein Schnippchen schlagen“. Die sanften Hügel des Weinviertels sind ja dafür bekannt, sagenhafte Wortfelder hervorzubringen, die nur noch bestellt werden müssen.

In ihrem neuen Roman tut Schachinger genau das: Sie fabuliert, lügt das Blaue vom Himmel herunter, mischt Realität mit Irrealität und hat keine Scheu vor ungeheuerlichen Behauptungen und großen Worten. „Albors Asche“ spielt in einem abgeschlossenen Kosmos. Drei Generationen von Bürgermeistern (der erste war „der General“) aus einer Familiendynastie formten die Gemeinschaft einer kleinen Stadt um zu einer wahren Bilderbuchdiktatur. Einzig und allein der amtierende Bürgermeister bestimmt, was passiert.

Umso erstaunlicher, dass Pastora, eine Nixe, die an der Quelle des Ebro geboren ist und nach 100 Jahren genug vom Leben im Wasser hat, nach Albor kommt, um dort ihre Zelte aufzuschlagen. Sie nimmt dreist die verwaiste Kirche in Beschlag. Eine Ungeheuerlichkeit in Albor, wo sogar der Pfarrer geflüchtet ist, weil er die dunklen Machenschaften des Bürgermeisters und des „Komitees“ (das aus hochrangigen männlichen Bürgern der Stadt und der unehelichen Tochter des Sohnes des Generals besteht) nicht mehr mittragen konnte.

Pastora hat bodenlanges rotes Haar, auch das eine Unmöglichkeit in Albor, da hier die Frisuren der Frauen maximal Schulterlänge haben dürfen. Zu Zeiten des Generals mussten sie sogar ihre Haare unter Tüchern, Hauben oder Ähnlichem verbergen, und die Bürger durften nur blaue Anzüge aus grobem Stoff tragen. Zumindest das hat sich im Laufe der Jahre gelockert, was nichts an der allgemeinen Unterdrückung ändert.

Jeden Morgen nimmt Pastora ein Bad im Fluss, bei jeder Witterung. Die Männer, die man – frei nach Ingeborg Bachmann – alle Hans nennen könnte, streichen wie liebestolle Kater um die Kirche, legen Geschenke auf der Schwelle ab, sitzen stundenlang auf den Bänken des Kirchplatzes und campieren dort sogar. Die Bäckerin, eine Witwe, macht mit ihrem kleinen Café das Geschäft ihres Lebens. Die Mädchen der Bar Delight hingegen, des einzigen Freudenhauses, liegen lässig auf den Sofas und freuen sich über die „erholsamen Stunden“: ein Szenario, das Federico Fellini gefallen hätte. Pastora muss sich wegen des Aufruhrs, den sie verursacht, bald einer öffentlichen (peinlichen!) Anhörung unterziehen, der Journalist stellt Fragen zu ihrer Herkunft und ihren Absichten. Immerhin erhält sie die offizielle Erlaubnis, in der Kirche wohnen zu bleiben, wenn sie sich dazu verpflichtet, diese instand zu halten.

Das Dach muss gestopft werden, die Turmuhr repariert und Risse in der Treppe müssen ausgebessert werden. Das Komitee wird regelmäßig den Stand der Dinge kontrollieren. Außerdem beschließt es, Pastoras Haare abzuschneiden. Wie in einem Schauprozess kommt ein Mann mit großer Schere und kürzt brutal den Haarmantel bis auf Ohrenlänge. Die roten Strähnen schweben durch die Luft, schlingen sich um hölzerne Äste und menschliche Hälse. Die erotische Anziehung ist für das Erste gebannt. Die rätselhafte Tatsache, dass den Männern Pastora als junges Mädchen erschien, jedoch für die Frauen alt – sogar „verschrumpelt“ – wirkte, ist nun vorbei, im Fortgang der Geschichte nähern sich die unterschiedlichen Blickwinkel an, und Pastora wird von beiden Seiten als nicht mehr so ganz junge Frau gesehen.

Soweit das Setting. Marlen Schachinger ist eine Autorin, die sich stark mit der Theorie des Schreibens und mit feministischer Literaturgeschichte auseinandersetzt. Sie ist zudem eine Wissenschaftlerin, die ihre Leser an ihrem Wissenshunger teilnehmen lässt. Allein die Kapitelüberschriften zeigen ihren Willen zu einer Universalbildung, zum Beispiel: „XI Ätzmattieren mit Fluorwasserstoffsäure (seit 1668). Nicht zu verwechseln mit der Technik des Amelierens, nicht zu verwechseln mit Amelie, ,die Tapfere, die Tüchtige‘.“

Die Figur von Valerian, einem Mann, der seit mehr als 20 Jahren sein Haus nicht mehr verlassen hat, und die Vorgänge in Albor von seinem Fenster aus verfolgt, ist die Verkörperung dieses Gelehrtenprinzips. Zitate, griechische, lateinische und althochdeutsche Begriffe schwirren um seinen Kopf, er kann keinen Gedanken fassen, ohne dass sich die dazugehörenden Quellen einschalten. Historische Kochrezepte murmelt er vor sich hin wie Mantras. Valerian schreibt, skizziert, liestund denkt. Hier kommt die klassische humanistische Bildung zum Ausdruck, wie es sie in dieser Form wohl immer seltener gibt. Der Universalgelehrte in seinem Kämmerchen ist eine aussterbende Spezies.

Pastora hingegen verkörpert mit ihrer sagenhaften Herkunft das poetische Prinzip, die Intuition, allerdings auch die Schicksalshaftigkeit, der – nicht nur – der Mensch unterworfen ist. Denn die Anziehung, die zwischen ihr und Valerian von der ersten Minute an herrscht – obwohl sie sich nur von der Ferne aus sehen –, mündet in keine dauerhafte Liebesgeschichte. Nur eine erotische Begegnung wird ihnen zugestanden.

Valerian spürt die Gefahr, in der Pastora schwebt. Der Bürgermeister erlässt eine Verordnung, die das Campieren auf öffentlichen Plätzen unter Androhung monatelanger Haftstrafen untersagt. Von da an werden beinahe täglich neue Verordnungen herausgegeben, je nachdem, was sich Pastora an Verfehlungen geleistet hat – auf dem Kirchdach spazieren (sie muss ja das Loch in den Schindeln reparieren!), Heilkräuter verabreichen (sie serviert einer Besucherin eine Tasse Tee) oder Nutztiere (im Gegensatz zu Haustieren) im Haus respektive in der Kirche halten (sie schläft neben zwei Schafen, denn im Kirchenschiff ist es im Winter bitterkalt).

Die Autorin dreht nun Schraube um Schraube fester, und langsam wird aus dem poetischen Märchenkaleidoskop ein Horrorthriller. Aus der Vergangenheit gibt es blutige Ereignisse zu berichten, in der Gegenwart braut sich das Unheil zusammen. Das erste Opfer ist die Kellnerin des Wirtshauses Zum Hirschen, sie muss sich irgendwie unbotmäßig verhalten haben – wie, das bleibt im Unklaren. Das Patriarchat kann seine Vormachtstellung nur durch eine Schreckensherrschaft aufrechterhalten. Es liegen keine Geschenke mehr auf der Schwelle, sondern Pastoras kleiner Kater ist an das Kirchentor genagelt. Eines der Schafe wird geköpft, das andere stirbt an Kummer.

Zeit zu gehen. Der Titel verrät das Ende, das auch Valerians Ende ist, das Schicksal des Undinen-Liebhabers ereilt auch ihn. ■

Marlen Schachinger

Albors Asche

Roman. 264S., geb., €19 (Otto Müller Verlag, Salzburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2015)

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