Was ist schon gut am „guten Leben“?

„Wider die Gleichgültigkeit“: Josef Dohmen möchte mit seiner Darstellung der philosophischen Lebenskunst, der Ars Vivendi, sowohl belehren als auch unter-halten. Tatsächlich zeigt das Buch die Kunst des Autors, den Leser mit Lebenskunst zu langweilen.

Eine der Unsitten, die uns heute im Kampf der Sachbuchverlage begegnen, ist die Suche nach Titeln, die darauf aus sind, Leser anzuziehen wie das Licht die Motten. Diese Unsitte verstärkt sich, wenn der Autorenname vermutlich nicht genügt, um den erhofften Absatz zu garantieren.

Josef Dohmens Buch, das bereits 2007 erschienen ist, heißt im Niederländischen: „Tegen de onverschilligheid“. Das klingt, als ob wir eine jener Streitschriften zu erwarten hätten, die den spätdemokratischen Typ des Passivpolitikverdrossenen oder gar den „Genussmenschen ohne Herz“ aufs Korn nehmen. Tatsächlich möchte uns Dohmen durch eine breit gefächerte Darstellung der philosophischen Lebenskunst – der seit alters sogenannten Ars Vivendi – sowohl belehren als auch unterhalten: „Pleidooi voor een moderne levenskunst.“ Dohmen, Jahrgang 1949, ist Professor für Philosophische und Praktische Ethik an der Universiteit voor Humanistiek in Utrecht. Von ihm gab es bisher kein Buch auf Deutsch. Das nun übersetzte Werk übernimmt den bombastischen Titel des Originals: „Wider die Gleichgültigkeit. Plädoyer für eine moderne Lebenskunst“.

Das Konzept der „modernen“ Lebenskunst ist freilich schon im Ansatz problematisch. Ihm liegt der Gedanke zugrunde, es gäbe „eigene Angelegenheiten“, die unabhängig vom ethischen Universalismus, unserer Moral der Mitmenschlichkeit, kultivierbar seien. Das deutsche Wort „Lebenskünstler“ deutet die Richtung an. Beim Lebenskünstler handelt es sich um einen Charakter, der – so die geflügelte Wendung – „aus allem das Beste“ zu machen versteht, besonders unter widrigen Umständen. Seiner Begabung und Ambition entsprechend, wird der Lebenskünstler vornehmlich um sich selbst besorgt sein, mithin gerade niemand, den das Schicksal seiner Mitmenschen, oder gar der Menschheit überhaupt, quälend beunruhigte.

Was bedeutet dann aber Dohmens titelgebender Slogan? Was heißt „Wider die Gleichgültigkeit“? Primär keineswegs, dass mehr Engagement für die Schwachen und Armen verlangt würde, mehr Gerechtigkeit, mehr Einsatz für Umwelt und künftige Generationen. Es heißt vielmehr – oder viel weniger –, dass man sich nicht dem Grau-in-Grau des gewöhnlichen Alltags ergeben und nicht im bunten Einerlei des Massenkonsums aufgehen sollte. „Bis vor wenigen Jahren ging es in der Ethik vor allem um Sozialmoral, um die Sorge für andere, um soziale Verpflichtungen und Verantwortung. In letzter Zeit hat die Idee, dass Selbstachtung die Grundlage der Moral bilde und Selbstfürsorge und Selbstverantwortung für die Qualität unseres Lebens mitentscheidend seien, in zunehmendem Maß an Gewicht gewonnen.“

Nimmt man Dohmens Plädoyer beim Wort, dann läuft die Selbstsorge auf ein Streben hinaus, das sich in dem Maß um soziale Belange kümmert, in dem diese das eigene Wohlbefinden einschränken oder befördern. Gegen Ende des Buches heißt es an einer Stelle lapidar: „Erst mit anderen und durch andere sind wir, wer wir sind.“ Das klingt gemeinschaftsorientiert, ist es indessen nur mit den lebenskunsttypischen Einschränkungen. Die anderen sind immer auch Mittel zum selbstsorgenden Zweck. Das ergibt, bestenfalls, ein Art Wohllebenssolidarität. Zwar will Dohmen, der von der Antike bis zur Neuzeit Häppchen aus dem Traditionstopf der Ars Vivendi leicht verdaulich aufbereitet, keinem offensiven Egozentrismus das Wort reden. Was will er dann?

Er redet von Aristoteles, von Nietzsche, von Foucault. Er redet davon, dass wir, empfindsame und geistige Wesen, das „gute Leben“ suchen. Damit solches Reden nicht einer Rechtfertigung selbstsüchtiger Lust und schonungslosen Eigennutzes dient – damit es weder im Machiavellismus noch bei Marquis de Sade noch bei Nietzsches „blonder Bestie“ endet –, müsste die Idee des guten Lebens dem ethischen Universalismus verpflichtet bleiben. Sie müsste also genau jene „Sozialmoral“ in sich aufnehmen, zu der laut Dohmen die Lebenskunst eine echte Alternative bietet.

Um diesen Punkt korrekt zu taxieren, muss der Leser weit zurückdenken. Das Konzept der antiken Lebenskunst setzte, mangels einer Ethik der Gleichheit aller Menschen, an der „aristokratischen“ Frage an, wie das vornehme Individuum möglichst wohlbefindlich leben könne. Damit waren privilegierte Einzelne aus dem Stand des Adels oder des einflussreichen Bürgertums gemeint, nicht der moderne Durchschnittsmensch. Folgerecht degenerieren die modernen Versionen der Ars Vivendi zu unverbindlichem Lebensklugheitsgeschwätz oder wollen eine Schule der „ästhetischen“ Lebensart für jene sein, die sich der existenziellen Menschheitselite zurechnen.

So ist es wohl kein Zufall, dass bei Dohmen Nietzsches Fantasie des „Übermenschen“, der alles Schwache versklaven, vernichten oder wegzüchten möchte, zu einem authentischen Lebenskunstwerk wird: „Die charaktervollen Menschen, die ,Herren‘, das sind die Kunstwerke.“ Die Garnierung dieser erstaunlichen Ansicht bilden merksatzartige Plattitüden: „Der freie Geist weiß, was es heißt, Steuermann seines Daseins zu sein.“ Und: „Verweigere dich absoluten Wahrheiten, akzeptiere und erlebe die Unsicherheit des Daseins auf deine eigene stilvolle Weise.“ Na danke vielmals!

Fazit: Der Leser hat beim Abspulen von Zitaten und pathetischen Gemeinplätzen auf Dauer mit Bildungslangeweile zu kämpfen. Zugegeben, den Leser zu langweilen mag unter lebenskünstlerischem Vorzeichen zulässig sein, sofern wenigstens der Autor seinen „stilvollen“ Spaß hat. Doch daraus ergibt sich für uns, die anderen, kein guter Grund, Dohmens Buch zu kaufen oder gar zu lesen. ■

Josef Dohmen

Wider die Gleichgültigkeit

Plädoyer für eine moderne Lebenskunst. Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke. 300 S., geb., €32,90 (Rüffer & Rub Verlag, Zürich)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2015)

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