Vergiss das Gute!

Ein einstiger Starreporter, er nennt sich Robert Kisch, wird Verkäufer in einem Möbelhaus. In seinem Bericht darüber erzählt er von einer Arbeitswelt, in der sich Habgier, Neid und Niedertracht der Menschen bemächtigen und wie Viren die Gesellschaft unterwandern. Eine Entlarvung.

Ein junger Mann wird Journalist. Er hat Talent: einen flotten Stil, eine gute Beobachtungsgabe, Neugierde und Weltoffenheit; er kann die Dinge auf den Punkt bringen. Er hat alles, was er braucht, um den Weg in die Redaktionsstuben der 1990er-Jahre zu finden. Es ist die Zeit, als der Journalismus boomt, Papier noch bedruckt wird, das Privatfernsehen neue Flächen bietet. Der junge Mann gewinnt Preise, macht sich einen Namen als „Edelfeder“ und genießt das Rampenlicht, vor der Kamera ebenso wie dahinter. Er teilt den Blick seiner Branche auf die Welt. Ein etwas überheblicher Blick, wie ihm später auffallen wird. Die Wirklichkeit anderer Menschen ist für ihn das Material, mit dem er Geld verdient.

Dieser Journalist hat nun ein Buch geschrieben: von der Arbeit in einem Möbelhaus. Es könnte eine Undercover-Reportage im Stil Günter Wallraffs sein, preisverdächtig. Der Bericht eröffnet einen Einblick in den Querschnitt der Konsumgesellschaft, er illustriert die Konsequenzen der Logik des unaufhörlichen Wirtschaftswachstums, dessen Vorgaben nach Plansoll erfüllt werden müssen, damit das System nicht zusammenbricht. Manches an der Praxis, über die hier berichtet wird, erinnert an den Fünfjahresplan des realen Sozialismus, auch wenn der Umgang mit diesem Plan anders ist. Überhaupt gemahnt so manches, was in diesem Möbelhaus passiert, an eine totgesagte Vergangenheit: an ideologische Gleichschaltung, insbesondere die allmorgendliche Gehirnwäsche, zu der die Mitarbeiter „freiwillig“ verpflichtet werden. Aber davon später.

Der Autor nennt sein Buch einen „Tatsachenroman“. Es handelt sich nämlich nicht um eine Reportage, sondern um den Bericht eines Betroffenen. Was hier beschrieben wird, das ist die Wirklichkeit der neuen Lebenssituation des Autors, der Provisionsverkäufer in einem Möbelhaus geworden ist. Er berichtet nicht mehr, um Geld zu verdienen, sondern, um mit dem Blick von innen von dem zu erzählen, was ihm begegnet und was er täglich besser begreift. Seine Sprache ist von einer unverblümten Direktheit, seine Sätze dringen wie Pfeile ins Bewusstsein und rütteln wach. So betrachtet, gibt es bei aller Tragik über ein individuelles Schicksal auch etwas Gutes an dieser Geschichte. Da hat nämlich einer hineingefunden, der jenen eine Stimme zu geben vermag, die sonst keine haben. Einer, der die Logik dieses Systems nicht nur durchschaut, sondern auch pointiert zu beschreiben vermag.

Deshalb berührt dieses Buch wohl mehr als jede Reportage, denn es ist die Wahrheit dessen, der hier erzählt: jemand, der nicht damit rechnen kann, in sein altes Leben zurückzukehren, auf den Bürostuhl, der ihm Achtung und Respekt eingebracht hat. Das Buch erscheint nicht unter dem Namen, mit dem der Journalist einmal Preise gewonnen hat und mit dem eine nicht näher genannte renommierte Position in der Branche verbunden war, sondern unter dem Pseudonym Robert Kisch als Anspielung auf den Vater des investigativen Journalismus Egon Erwin Kisch. Seine Identität als Journalist ging in der Wirtschaftskrise verloren. Die knapp gewordenen Ressourcen für die Journalistik verunmöglichen es Medien, sich in die Jahre gekommene Talente zu leisten, weil sie zu teuer und zu unflexibel geworden sind.

Kriegsschauplatz Rabattschlachten

Unser Autor ist Ende 40. Da hat man üblicherweise schon Verbindlichkeiten, die das Leben so mit sich bringt: Er ernährt eine Familie. Da er in seinem Beruf keine anständig bezahlte Arbeit mehr findet, wird er Möbelverkäufer, vorübergehend, wie er hofft. Der berufliche Abstieg erweist sich in seinem Curriculum Vitae jedoch als schwarzer Punkt, in der Nachbarschaft wird getuschelt. Zeit für die Familie gibt es wegen der im Einzelhandel üblichen langen Öffnungszeiten kaum, der Kontostand bleibt unter allen Erwartungen, die beim Einstellungsgespräch geweckt wurden. Sein Verdienst ist nämlich abhängig von der Provision, und deren Umsatzsteigerung steht im Widerspruch zu den täglich neu befeuerten Rabattschlachten zwischen den einzelnen Möbelhäusern.

Der wirtschaftliche Erfolg wird auf dem Kriegsschauplatz der Rabattschlachten erkämpft: Verkäufer gegen Verkäufer, Verkäufer gegen Kunden, Kunden gegen Verkäufer. In diesem Buch lernen die Kunden die andere Seite der aufdringlichen Freundlichkeit kennen, von der sie sich schon oft bedrängt gefühlt haben. Sie erfahren in allen Details, was es bedeutet, mit immer gleich bleibender Freundlichkeit bedienen zu müssen. Im wahrsten Sinn des Wortes: dienen. Und der täglichen Empörung über den Geschäftssinn, der sich im Kleingedruckten verbirgt, auch dann mit Gleichmut zu begegnen, wenn sie in Respektlosigkeit denjenigen gegenüber umschlägt, die die perfide Verkaufstaktik zu exekutieren haben. Überhaupt scheint fehlender Respekt vor dem anderen an diesem Ort ein Stereotyp des mitmenschlichen Umgangs zu sein.

Die Geiz-ist-geil-Mentalität der Kunden, zu denen diese durch die Diskontgefechte der Unternehmen erzogen worden sind, ist die logische Folge der Mentalität dieser Unternehmen, in der Menschlichkeit, ein nicht bezifferbarer Wert, nachgeordnet ist. Vergiss das Gute, ist eine der ersten Lektionen, die Kisch über Kundenpsychologie erteilt wird. Neid ist in der Literatur der Verkaufspsychologie zu einer Tugend umgewertet worden. Er gilt als Antriebsmotor für Leistungssteigerung. Das „Möbelhaus“: ein exemplarischer Austragungsort einer Umwertung von Werten. Was das mit den Kollegen, Kunden und Vorgesetzten macht, davon erzählt Kisch am Beispiel einzelner Typen und individueller Schicksale. Auch davon, wie sich die niedrigsten Instinkte der Menschen bemächtigen, Habgier, Neid und Niedertracht, wie Viren, die die Gesellschaft unterwandern.

Man könnte die Logik dieses Systems analog zu Trotzkis Modell der „permanenten Revolution“ als Modell der permanenten Konkurrenz beschreiben, als notwendiger Nährboden, auf dem das Heilsversprechen einer Ideologie des maximalen Profits gedeiht. Der Umsatz der Möbelhäuser ist durch den Onlinehandel in die Krise geraten, die Erziehung zur Geiz-ist-geil-Mentalität hat die Kunden zu Recherche-Profis im Preisvergleich gemacht und die Verkäufer zum Gratis-Infopoint. Nichtsdestoweniger beharrt die Geschäftsführung trotzig auf der Umsatzsteigerung. Da Wunsch und Realität im Widerspruch zueinander stehen, müssen Schuldige gefunden werden: die Verkäufer. Deren Leistung soll optimiert werden.

Wie Kisch die Indoktrinierung durch NLP oder ähnlich geschulte Sprechtechniken beschreibt, die alle Mitarbeiter morgens vor Dienstantritt „freiwillig“ zu besuchen haben, geht unter die Haut. Es geht um nicht weniger als um ein Verbot eigenständigen Denkens und Urteilens: Ironie, Unmut oder gar Widerspruch werden vermerkt, Auffälligkeiten können bis zum Jobverlust führen. Der Verkaufserfolg soll sich etwa einstellen, wenn die Mitarbeiter sich als „Vision“ Zahlen vor Augen führen, um sie dann auch zu erreichen.

Es ist eine Welt der Algorithmen, unterfüttert von esoterischen Konzepten von positivem Denken, das zur Unternehmensphilosophie aufgebläht wird und Menschen ein nützliches Instrument in die Hand gibt, um andere Menschen unter Kontrolle zu halten. Auch das macht betroffen: Kischs Erkenntnisprozess zu folgen, wie es einer Gesellschaft ergeht, die sich von ihrem eigenen geistigen Fundament loszusagen droht, das Widerstand möglich machen würde – von humanistischer Bildung, die zu kritischem Denken und Urteilen erziehen kann. Die Philosophie des Unternehmens, entworfen von hoch bezahlten Verkaufsstrategen und übermittelt von hoch bezahlten Verkaufstrainern in den „freiwillig“ zu besuchenden Seminaren beschreibt Kisch als primitiv, zusammengekleistert aus Versatzstücken philosophischer und spiritueller Traditionen, herausgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext, abgeschnitten von ihren Wurzeln.

Herausgekommen ist ein in doktrinäre Formeln gegossenes Konglomerat, verpackt in Emotion, und das ergibt Ideologie. Geld ist das höchste Gut, lautet die Botschaft. Die Sehnsucht nach etwas Höherem wird im neonlichtbeleuchteten und musikbeschallten Bunker der Verkaufshallen, dem täglichen Austragungsort von Intrigen und Betrug, im Keim erstickt.

Auch dem ehemaligen Journalisten ist die einst so vertraute Welt des Kulturgenusses wie Konzerte und Museen fremd geworden: Es gibt keinen inneren Raum mehr dafür. Rundum erlebt Kisch den Mechanismus von Flucht in Drogen oder psychische Erkrankungen, Zusammenbrüche bis hin zu Krebserkrankungen. Die Fallbeispiele, die dem Klischee entsprechen, machen nachdenklich: der Türke, der das Verkaufen als Spiel betrachten kann, weil er eine starke Community des sozialen Zusammenhalts hat, Familie und Freunde. Die allein stehende und kinderlose deutsche Endvierzigerin, die ihre kranke Mutter pflegt und sogar freiwillig zur Arbeit kommt, weil sie es zu Hause nicht aushält.

Kischs Arbeitsplatz ist ein Mikrokosmos, in dem sich soziale Durchlässigkeit abbildet: auf dem Weg nach unten. Der Einzelhandel ist zum Sammelbecken für Existenzen geworden, die aus Sackgassen einen neuen Weg zu finden versuchen: der Hoteldirektor, die Augenoptikerin, der Millionenerbe. Junge Menschen mit abgebrochenen Studien oder Abiturienten. Der Autor bemerkt ihre Intelligenz, der Arbeitsmarkt nimmt sie dennoch nicht mehr auf.

Bildung schützt nicht vor dem Fall

Auch erzählt das Schicksal von Robert Kisch davon, dass der soziale Aufstieg über Bildung in einer Marktwirtschaft, die Nachhaltigkeit nicht als Wert begreift, nicht zwangsläufig eine Einbahnstraße ist. In modernen Lebensläufen können Talent und Leistungsbereitschaft den Weg nach oben zwar ermöglichen, aber diese Eigenschaften garantieren den Platz an der Sonne noch lang nicht. Entgegen dem täglichen medial verbreiteten Mantra aller Bildungsexperten: Der soziale Aufstieg über Bildung schützt nicht vor dem Fall.

Wenn Letzterer eintritt, dann müssen Qualitäten wie Ehrgeiz und Geltungsdrang, die mitzubringen sind, um die metaphorischen „15 minutes of fame“ erleben zu können, erst einmal revidiert werden. Im Möbelhaus habe er Demut gelernt, schreibt Kisch. In jedem Fall erfordert die Situation psychische Stabilität, um mit den Konsequenzen leben zu können: den Schuldzuweisungen der Gesellschaft, die ein Versagen des Einzelnen darin sieht, wenn die Nachbarn reden, die Eltern sich in ihren Erwartungen enttäuscht sehen, die Ehe in die Brüche geht.

Auf diesem individuellen Schicksalsweg trifft man Robert Kisch auch in Momenten, die berühren und Hoffnung machen. Er habe schweigen gelernt und eine neue Qualität in sein Leben eingelassen. Auf einem Hügel an einem kleinen Fluss hat Kisch einen Ort des Rückzugs für sich entdeckt, wo er zum ersten Mal in seinem Leben etwas genießt, was ihm bis dahin völlig fremd war: Gar nichts zu tun, still zu sein. Und er empfindet mit einem Mal, nach der Aufgabe sämtlicher Träume, Ziele und Illusionen, Friede und Harmonie, ja: Glück. „Bizarr ist tatsächlich, dass ich mir einsam und arm und verstoßen echter vorkomme, stärker lebendig und mitfühlender für all das Elend, das tatsächlich in weiten Teilen der Welt herrscht, als in der bürgerlichen Mitte.“ ■

Robert Kisch

Möbelhaus

Ein Tatsachenroman. 352S., Tb., €13,40 (Droemer Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2015)

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