Ich halte nur die Feder

Als Christine Lavant endlich Anerkennung zuteil wurde und sie Preise bekam, war sie längst verstummt. Sie hat nicht aus, viel eher gegen Verstörung, Verzweiflung und Vereinsamung geschrieben. Zum 100. Geburtstag der großen österreichischen Dichterin.

Wer je mit den Gedichten von Christine Lavant in Berührung gekommen ist, dem gehen sie nicht mehr aus dem Sinn. Das liegt an ihrem Rhythmus und Reim ebenso wie an der kreativen Handhabung einer intensiven Bildwelt. Ihr 100. Geburtstag am 4. Juli ist also mehr als ein Pflichttermin der Gedenktage- und Anlasskultur, aber auch mehr als ein Tag der Erbauung für die treue, aber kleine Lavant-Gemeinde. Das Erscheinen einer vierbändigen Werkausgabe im Wallstein Verlag macht nämlich nicht nur bisher unbekannte oder vergessene Texte zugänglich, sondern fordert eine neue Lektüre des gesamten Werkes und ermöglicht auch einen differenzierteren Blick auf die Biografie; neue Lavant-Bilder offenbaren sich – auch im wörtlichen Sinn: Die Umschlagbilder zeigen eine andere Autorin als die Kopftuch-Ikone, die sich nicht zuletzt durch die Holzschnitte von Werner Berg, ihrem Liebes- und Kunstpartner in schmerzlich wenigen Jahren, eingebrannt hat.

Die demnächst erscheinende Werkausgabe und die damit verbundenen Publikationen erschließen neue biografische und sozialgeschichtliche Horizonte, zeigen aber gleichzeitig, dass Lavants Werk den österreichischen Kontext ebenso übersteigt wie den Katholizismus, der ihre Bildwelt geprägt und die Gebets- und Litaneiformen mancher Gedichte generiert hat. Und nachdem ihre Erzählungen bis heute als Beiwerk der Lyrikerin angesehen wurden, rückt nun endlich auch die Prosa-Autorin Christine Lavant ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Es begann mit der Prosa. Bereits 2012 edierte der Klagenfurter Germanist Klaus Amann, langjähriger Leiter des Musil-Instituts, die zwischen 1945 und 1949 entstandene Erzählung „Das Wechselbälgchen“, die das geistig zurückgebliebene und körperlich entstellte uneheliche Kind einer Bauernmagd im Blick hat. Dieser Text wurde erst 1997 entdeckt und ein halbes Jahrhundert nach seiner Publikation posthum erstveröffentlicht. Die Neuedition greift auf Korrekturen der Autorin zurück, die vor einiger Zeit gefunden wurden, und will die sprachlichen und formalen Besonderheiten des Textes möglichst exakt wiedergeben.

In seinem glänzend geschriebenen Nachwort beschreibt Amann die Interpunktion vonChristine Lavant, die sie selbst einmal als „reingefühlsmäßig“ bezeichnet hat: „Ihrer Zeichensetzung liegen das Stilideal der Mündlichkeit und ein ausgeprägtes Sensorium für sprachrhythmische Verhältnisse zugrunde.“ Hier nur behutsam einzugreifen ist ein Prinzip der neuen Prosa-Edition. Das Nachwort legt auch wichtige Dimensionen für das Verständnis des Textes frei: die Sagentradition vom Wechselbalg (einem vertauschten, unterschobenen Kind) und wie Lavant mit ihr umgeht, vor allem ihre Umwertung auf der Basis von Mitgefühl und Erbarmen.

Wie kaum eine andere Autorin versteht es Christine Lavant, ein Kind in den Mittelpunkt ihrer Prosa zu rücken, ihm seine Autonomie zu lassen und seine Welt durch keinen Erzählerkommentar zu relativieren. Und Klaus Amann gelingt es aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung mit sozialhistorischer Literaturinterpretation und Schriftstellerbiografien wie keinem Zweiten, die autobiografischen wie die soziologischen Voraussetzungen der Prosa von Christine Lavant freizulegen, ohne ihre Texte darauf zu reduzieren.

Entdeckung als Prosa-Autorin

Das zeigt auch die in diesem Jahr erschienene Edition der Erzählung „Das Kind“, Christine Lavants erster Buchpublikation. Dass das Nachwort des Herausgebers fast so lang ist wie die Erzählung selbst, hat nichts mit Germanisteneitelkeit zu tun, sondern legt erstmals die Anfänge von Lavant als Prosa-Autorin zusammenhängend offen – angesichts der erstaunlichen Tatsache, dass es bis jetzt keine Lavant-Biografie gibt, ein dringend notwendiges Unterfangen. Die aus Kärnten stammende und nach England ausgewanderte Schriftstellerin und Übersetzerin Nora Purtscher-Wydenbruck notierte folgende Antwort von Christine Lavant auf die Frage, wie sie denn schreibe (in englischer Übersetzung): „It writes itself – I just hold the pen.“ Anders als in ihrer späteren Lyrik, in der es zu einzelnen Gedichten Vorformen und Varianten gibt und deren Druck sie dann sorgfältig überwacht hat, ist die Prosa offenbar wie in einer „écriture automatique“ aus Christine Lavant herausgeflossen.

Das hat Konsequenzen für die Edition der Texte: Eine Leseausgabe muss offensichtliche Irrtümer und Flüchtigkeiten, die durch diesen Schreibfluss, der „wie eine Sturzflut“ über die Autorin gekommen ist, korrigieren (und die Prinzipien dieser Eingriffe offenlegen). Gleichzeitig müssen aber die zahlreichen Korrekturen der Erstpublikation aufgrund des Typoskripts zurückgenommen werden. „Das Kind“ ist erstmals 1948 in Viktor Kubczaks neu gegründetem Brentano Verlag in Stuttgart erschienen und wurde 1989 auch in der Bibliothek Suhrkamp verlegt. Das Auffinden der Originalhandschrift ist von großer Bedeutung, da Christine Lavant die Personen durch ihre Sprechweise charakterisiert – die Glättung von Austriazismen und dialektalen Elementen ist daher fatal.

Noch stärker als im „Wechselbälgchen“ basiert „Das Kind“ auf autobiografischen Erfahrungen der Autorin: drückender Armut, Ausgegrenztwerden, Krankenhausaufenthalten. Amanns Nachwort legt diese Erfahrungen aufgrund zahlreicher Briefzitate und autobiografischer Äußerungen Christine Lavants offen, analysiert ihre literarische Transformation und benennt das Spezifische dieses Textes: „Die Art und Weise, wie Christine Lavant hier erzählt, zielt darauf ab, die Würde des Kindes zu wahren.“ Ausführlicher beschreibt er das Unerhörte, das aufregend Neue dieser Erzählung so: „Die intime Kenntnis der reichen und überaus lebendigen Empfindungs- und Gedankenwelt einer furchtsamen und bedrängten kindlichen Seele vermittelt sich ausschließlich durch die Erzählweise und durch die Äußerungen des Kindes selbst. Nicht von einem Kind wird erzählt, das Kind erzählt sich.“

Warum hat Christine Lavant das Prosa-schreiben zugunsten von Gedichten nahezu aufgegeben? Geschah es, wie Amann im Gespräch vermutet, aufgrund der Lyrik-Konjunktur der ersten Nachkriegsjahrzehnte, die den Erfolg von Lavants Gedichtbänden wesentlich mitbestimmte? Oder liegt die Erklärung in einer Aussage von Christine Lavant, die Fabjan Hafner anführt, dass man in der Lyrik weniger von sich preisgebe als in der Prosa? Hafner verantwortet zusammen mit Doris Moser den ersten Band der neuen Werkausgabe: die zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte. Verglichen mit den Prosa-Editionen hatten sie es insofern leichter, als nicht nur Lavants drei große und ihr Image prägende Gedichtbände, „Die Bettlerschale“, „Spindel im Mond“ und „Der Pfauenschrei“, ebenso als von der Autorin autorisiert gelten können, sondern auch die weiteren Buchpublikationen ihrer Lyrik; lediglich bei den verstreuten Publikationen war der Vergleich mit den Handschriften beziehungsweise Typoskripten geboten. Doch auch, wer Lavants wichtigste Gedichtpublikationen bereits besitzt, kann auf den ersten Band der Werkausgabe nicht verzichten – allein wegen der umfangreichen Nachworte.

Doris Moser rekonstruiert „Christine Lavants Leben als Dichterin“ aus Dokumenten und aufschlussreichen Briefzitaten; sie räumt dabei nicht nur mit zahlreichen Klischees auf, sondern macht vor allem auch sichtbar, wie sehr ihr Schreiben mit der Beziehung zu Werner Berg zusammenhängt – und wie lang sie, trotz ihres kurzen Lebens von nur 58 Jahren – ihr Schreiben überlebt hat. Briefeschreiben ersetzte immer mehr das Dichten – gegen „das steinerne Schweigen das immer enger u. schwerer herabdrückt“, wie Lavant in einem Brief schrieb. Ein anderes Mal hielt sie fest: „Dichten wird ich wohl nimmer, aber ist das denn soo wichtig? Wer Verödung und Vertrottelung halbwegs geduldig erträgt, der ist auch kein Hund.“ Als Christine Lavant endlich die große Anerkennung erfuhr und Preise bekam, war sie längstverstummt; nur durch Publikation von bereits früher Geschriebenem konnte sie das verschleiern.

Fabjan Hafners Essay über Poetik und Rezeption Christine Lavants warnt vor vorschnellen und verkürzenden Schlüssen aus der Biografie: „Die Autorin war eine souveräne Gestalterin formstrenger Texte, deren Suggestivität auf subtil aufeinander bezogenen Klangfarben, im metrischen Raster sorgsam gehandhabter Rhythmen und virtuos verzahnten und verflochtenen Bilderfolgen beruht.“ Lavant hat „nicht aus, viel eher gegen Verstörung, Verzweiflung und Vereinsamung geschrieben“. Hafner zeigt aber auch, wie Lavant über sich selbst als öffentliche Figur Regie zu führen verstand – etwa durch ihren nur mündlich überlieferten Satz „Jetzt kommen die Fotografen, jetzt muss ich die Zähne herausnehmen.“ Die Legende vom unbedarften Kräuterweiblein wusste sie selbst zu nähren. Hafner plädiert auch vehement dafür, gegen die herkömmliche religiöse Lesart der Lavant-Gedichte gleichwertig eine sinnlich-erotische gelten zu lassen, sie als Gedichte einer absoluten Liebe und Entäußerung zu lesen.

Wilde, grandiose Gedichtanfänge

Liest man sich durch den gut 700 Seiten dicken Band der zu Lebzeiten erschienenen Gedichte, bleibt man immer wieder hängen an den wilden und grandiosen Gedichtanfängen, die Ilma Rakusa an Lavant rühmt; und auch wenn man auf viel Vertrautes stößt und von den suggestiven Rhythmen und Reimen mitgerissen wird – die Gedichte entziehen sich der Interpretation, sie bleiben ein glühendes Geheimnis (das sich nicht wie ein Rätsel auflösen lässt).

Rakusas Text über Lavant findet sich im Sammelband „Dreh die Herzspindel weiter für mich“, in dem sich unterschiedlichste Autorinnen und Autoren zu Lavant äußern. Hier wird sichtbar, wie ein Lavant-Gedicht für Friederike Mayröcker, Christoph W. Bauer, Evelyn Schlag, Ulf Stolterfoht und viele andere zum Generator eines eigenen Textes werden kann. Auch wichtige Zeugnisse und Interpretationen vereint dieses Buch; auch ein Gespräch mit Sibylle Lewitscharoff, für die Christine Lavant „die größte Dichterin überhaupt im 20.Jahrhundert unter den Frauen“ ist.

Das Werk der Christine Lavant ist nicht tot an ihrem 100. Geburtstag. Ihre Werkausgabe wird zügig fortgesetzt: Für November ist bereits der zweite Band mit den zwölf zu Lebzeiten publizierten Erzählungen angekündigt, in den nächsten Jahren sollen die beiden Bände mit den Gedichten und der Prosa aus dem Nachlass folgen. Hoffentlich wird irgendwann auch eine Lavant-Biografie erscheinen und ein Briefband herausgegeben werden; schon die Nachworte der bisherigen Ausgaben zeigen: Christine Lavants Briefe sind nicht nur biografische Dokumente, sondern über weite Strecken selbst Literatur. Schmerzhaft verstörend und irritierend und auf dunklem Hintergrund leuchtend wie ihre Prosa und ihre Gedichte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2015)

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