Island, du hast es schwerer

Zerklüftet, ungebändigt, fesselnd: „Der Junge, den es nicht gab“, Sjóns neue nordische Prosa.

Endlose, von schwarzen, scharfkantigen Felsbrocken und Steinen bedeckte Lavawüsten. Ödland, in denen Gletscherfluten gewütet haben, steil abfallende Küsten, von kargen Weiden gesäumt: Die Schönheit Islands eröffnet sich erst auf den zweiten Blick. Die Insel wirkt wild und unzugänglich und ist gerade darin magisch und berückend. Einen ähnlichen Eindruck hinterlässt der jüngste Roman des isländischen Allroundkünstlers Sjón. Er macht es uns nicht leicht: „Der Junge, den es nicht gab“, so der Titel des schmalen Bandes, ist ein sprödes Stück Literatur, seltsam fremd und abweisend und doch faszinierend. Ein Findling in der Literaturlandschaft.

So wie auch Máni Steinn ein ziemlich verlorener, auf sich alleine geworfener Held ist. Schon als Kind zur Waise geworden, schlüpft er bei einer entfernten Verwandten unter. Als 1918 die Spanische Grippe über Reykjavík hereinbricht, ist er 16: ein ratloser junger Bursche, gefangen in seiner Homosexualität, die er geheim halten muss, um nicht geächtet zu werden. Er schlägt sich als Strichjunge durch, meist in der Sorge, dabei aufzufliegen.

Island ist in jenen Tagen gerade erst dabei, die Fänge der dänischen Unterdrückung zu sprengen und sich auf eigene Beine zu stellen. Reykjavík ist ein Städtchen von 15.000 Einwohnern und eng in jeder Hinsicht. Die Welt scheint weit weg. Gäbe es da nicht noch das Kino. Für Máni Steinn, der kaum lesen und schreiben kann, eine Art Schule: kein Perspektivenwechsel, den er nicht wahrnimmt, keine Regung der Schauspielerinnen und Schauspieler, die er nicht registriert. So wird er erwachsen, so lernt er, wie das Leben funktioniert. Um sich auf diese Weise davonzustehlen aus einem Alltag, der immer mehr aus den Fugen bricht. Während jenseits des Ozeans der Erste Weltkrieg tobt, erlebt Island sein eigenes Drama: Die Katla ist ausgebrochen, ein weithin gefürchteter Vulkan, der schon mehrmals Gehöfte und Weiden unter sich begraben hat. Niemand weiß, wie lange und vernichtend er diesmal toben würde. Dazu die Spanische Grippe, die das Staatsgefüge lähmt. Reykjavík versinkt in Agonie. – Sjóns Roman gerät nur langsam in Gang. Er zeigt sich zerklüftet und in viele Einzelteile zerrissen. Die Sprache kommt ruhig und gelassen daher und bricht dann ins Expressive und Fantastische aus, brandet bis ins Unerträgliche auf, um schließlich zum eigentlichen Erzählfluss zurückzukehren. Zitate und dokumentarische Fotos durchbrechen den Text und verunsichern noch weiter:Hat es diesen Máni Steinn gegeben, wessen Alter Ego ist er wirklich? Und wie gelingt es ihm, sich aus den Fesseln einer restriktiven Gesellschaft zu befreien?

Sjón, der eigentlich Sigurjón Birgir Sigurđsson heißt und 1962 in Reykjavík geboren wurde, lässt sich ohnehin nicht so leicht festnageln. Er ist Lyriker und Romancier, international bekannter Songwriter für Björk und Lars von Trier und Aktionskünstler im umfassenden Sinn. Als Autor hat er sich mehrfach mit der Geschichte seiner Heimat auseinandergesetzt. Diesmal verknüpft er die Ereignisse rund um die verheerende Grippeepidemie des Jahres 1918 mit der Verfolgung der Homosexuellen. Und als ob das noch nicht reichen würde, führt er auch noch vor, wie sehr sich das kleine Island dem Film geöffnet hat, wie offen die Menschen für die damals neue Kunstform waren und wie selbstverständlich es ihnen gelang, sie mit den Erzähltraditionen der Sagas zusammenzuspannen.

Und vielleicht ist das auch die Methode des Autors: sich ähnlich wie die Helden der Sagas auf ein weites, ungebändigtes narratives Feld zu begeben, den Hürden und Abenteuern unerschrocken entgegenzusehenund im Auge des Sturms nicht verloren zu gehen. Man folgt Sjón gebannt über Stock und Stein. ■

Sjón

Der Junge, den es nicht gab

Roman. Aus dem Isländischen von Betty Wahl. 144 S., geb., € 17,99 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

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