Proud to present: Mr. Kraus

Jonathan Franzen will dem US-Publikum einen Österreicher nahebringen: „Das Kraus-Projekt“ präsentiert zwei Essays des Altmeisters mit opulenten Randnotizen von Franzen. Ebenfalls am Projekt beteiligt: Daniel Kehlmann und Paul Reitter.

Viel Lärm im Vorfeld, viel zu viel. Ein Autor, der sich längst seinen Platz in der Geschichte der Great American Novel gesichert hat, namentlich mit den Romanen „Die Korrekturen“ und „Freiheit“, präsentiert demUS-Publikum zwei Essays von Karl Kraus, „Heine und die Folgen“ (1910) sowie „Nestroy und die Nachwelt“ (1912), verbunden mit dem werbeträchtigen Hinweis: „translated and annotated by Jonathan Franzen“(2013). Gut. Aber dass auch sein deutscher Verlag mutmaßt, Kraus sei eigentlich lang schon vergessen und dieses Buch demnach ein Ereignis, grenzt dann doch an ein seltsames Gemisch aus Unbedarftheit und Ignoranz; schon ein kurzer Blick in die einschlägige Ergebnisliste, die Google liefert, hätte die Rowohlt-Marketingabteilung nämlich eines Besseren belehrt.

Nach der Lektüre des Kraus-Kommentars von Franzen, vor allem der dort vorgetragenen massiven Polemik gegen diverse Formen des Online-Diskurses, den Unfug nicht kontrollierter Produktbewertungen, gegenFacebook und Twitter liegt es fast schon nahe, das Internet in Bausch und Bogen zu verdammen und auch auf alle Suchmaschinen zu verzichten – Franzen aber tut's nicht. Ihm ist es vielmehr ein Anliegen, die schon von Kraus mit Argusaugen verfolgte Verbindung von Medien und Kapital aufzugreifen und auf ihre Aktualität hin zu überprüfen. Darüber hinaus auch den Moralismus neu abzuwägen, den Franzen in den Schriften seines großen Vorbilds und in eigenen Arbeiten ausmacht, etwa in den Ausfällen gegen John Updike oder Philip Roth.

Von Thomas Pynchon ganz zu schweigen. Wie Franzen sich von ihm abgelöst und entfernt hat, so sieht er den Prozess des Auf-Distanz-Gehens, der im Heine-Essay zu beobachten ist. Das Verfahren, mit dem Kraus dort einen aus seiner Sicht weit überschätzten Dichter demontiert, während er später umgekehrt, im Nestroy-Aufsatz, damit einemgewaltig unterschätzten Volksstückautor zu einer Renaissance verhilft, ist für Franzen allein schon faszinierend genug. Mehr noch lässt er sich von den weit ausholenden Überlegungen leiten, die Kraus anstellt, um die falschen Versprechungen der Aufklärung und der Modernisierung auf allen Ebenen zu examinieren. Fühlt er doch ähnlich, wenn er sich in zeitgenössische Feuilletons vertieft: pseudowissenschaftliches Gerede hin und hin, Verbeugungen vor „Avantgardisten“, die es sich zunutze machen, dass ihre Sprache auch bei wiederholter kritischer Lektüre unverständlich bleibt.

So weit, so billig; neu sind derartige Einsichten nicht. Neu ist nur, dass Franzen den zitierten Schriften von Kraus einen ungleich größeren Fußnotenapparat beifügt, der die Originaltexte regelrecht zerreißt; und weiter, dass dabei ein Kardinalproblem ungelöst geblieben ist, um das Franzen sich nicht kümmert: Die Anmerkungen wenden sich an ein Publikum, das mit der Geschichte der deutschsprachigen Literatur kaum vertraut ist.

Das Malheur hat mit der Vorgeschichte des Projekts zu tun. Franzen hat sich schon in seiner Studienzeit in Berlin erstmals mit Kraus beschäftigt. Sein bald darauf gefasster Plan, einige Kraus-Essays zu übersetzen und dem US-Publikum vorzustellen, geriet aber ins Stocken. Erst die Begegnungen mit dem Autor Daniel Kehlmann und dem Kraus-Experten Paul Reitter aus den USA haben ihn ermuntert, nach mehr als 20 Jahren das Kraus-Projekt erneut anzugehen. Er gewinnt Kehlmann und Reitter als Mitarbeiter und diskutiert mit diesen beiden, worüber er am meisten nachsinnt – was Kraus noch immer zu sagen hätte; in den USA wohlgemerkt.

Dieser Vorsatz befreit die Kommentatoren von der Verpflichtung (so denken sie), gründlich zu recherchieren, was die internationale (auch die österreichische) Kraus-Forschung in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten schon erbracht hat. Gerade noch Edward Timms und Christian Wagenknecht werden wenigstens erwähnt; als wären alle übrigen Erträge der Forschung in Reitters Kraus-Studie „The Anti-Journalist“ schon aufgehoben. So verwundert es nicht, dass Unterhaltungswert und Erkenntnisgewinn dieser Notizen haarscharf über null liegen.

Dasselbe gilt für Randbemerkungen zu Heine und Nestroy. Es mag noch hingehen, Heine mit Bob Dylan zu vergleichen, mit Blick vor allem auf das Echo, das beide ausgelöst haben. „Wer aber das Gedicht als Offenbarung des im Anschauen der Natur versunkenen Dichters und nicht der im Anschauen des Dichters versunkenen Natur begreift“ (so Kraus, somit für Goethe aber gegen Heine Partei ergreifend), sollte doch nicht nur die Wirkung der Texte allein, sondern auch diese selbst genauer betrachten. Auch über die Kontroverse zwischen Heine und Börne ist nicht viel gesagt, wenn Franzen einmal anmerkt: „Man denke an Hemingway vs. Faulkner.“ Wenn Kehlmann wiederum das alte Klagelied anstimmt, dass Nestroy, wenn überhaupt, nur in Österreich verstanden werde, da der deutsche Kanon in einem Aufwaschen mit dem Hanswurst auch den Humor verbannt hätte, dann liegt er doppelt falsch. Zum einen, weil er darauf verzichtet hat, Nestroy-Experten wie etwa Jürgen Hein (1942–2014), einen der Hauptherausgeber der historisch-kritischen Nestroy-Ausgabe, zu befragen, zum anderen, weil ihm entgangen ist, dass immerhin auch Lichtenberg, Jean Paul, Fontane, Thomas Mann, Morgenstern, Ringelnatz, Tucholsky und viele anderelängst einen Logenplatz im literarischen Olymp der Deutschen haben.

Andererseits muss doch gesagt sein: Zu vielen Anspielungen, die den Zeitgenossen von Karl Kraus noch keine Probleme bereitet haben, gibt Reitter zuverlässige Erläuterungen. Kehlmanns Stärke wiederum, aufmerksames Close Reading, kommt vor allem in seiner Interpretation des Kraus-Gedichts „Man frage nicht...“ zur Geltung. Franzen aber gerät im Fortgang der Arbeit mehr und mehr ins Erzählen. Er lässt seine Studienzeit Revue passieren, Begegnungen in Berlin und Wien, berichtet Lektüreerfahrungen und macht sich seine Gedanken, etwa über Privilegien, die es jungen Autoren relativ leicht machen, in der Öffentlichkeit zornig aufzutreten, oder über die Notwendigkeit der Abkehr von den Vätern. Auch Kraus gegenüber, bei aller Verehrung, äußert er messerscharf seine Einwände, obgleich er in allen zentralen Punkten nach wie vor mit ihm d'accord geht. ■

Jonathan Franzen

Das Kraus-Projekt

Aufsätze von Karl Kraus, mit Anmerkungen von Jonathan Franzen. Unter Mitarbeit von Paul Reitter und Daniel Kehlmann. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. 304 S., geb., € 20,60 (Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

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