Henriette Alt liebt auswärts

Als Ernst Lothars Roman „Der Engel mit der Posaune“ 1947 erschien, knurrten noch Reste der NS-Sprache aus so mancher Rezension. Der darauf folgende Film verzuckerte die Handlung. Nun wurde die Wiener Familiensaga neu aufgelegt.

Ernst Lothars Wiener Familiensaga „Der Engel mit der Posaune“ erschien 1944 in den USA. Als drei Jahre später die deutsche Erstausgabe herauskam, meinte ein Rezensent, der Roman akzentuiere die Bedeutung des Judentums „als Sauerteig des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens Österreichs“ doch „etwas zu stark – insbesondere auch ist die starke jüdische Versippung der symbolhaft für Österreich stehenden Familie auffällig. Diese Verknüpfung ist für den Prototyp des Österreichers abzulehnen.“

Das umreißt die Stimmung, die Lothar Ernst Müller, geboren 1890 in Brünn und 1938 aus Österreich vertrieben, vorfand, als er in der Uniform der amerikanischen Befreiungsmacht wieder österreichischen Boden betrat. Dennoch entschied er sich nach den Jahren des Exils und trotz einer erfolgreichen zweiten Karriere als Schriftsteller in Amerika für Österreich und arbeitete hier wie vor 1938 als Journalist, Regisseur und Autor.

Mit allfällig provokanten Inhalten des Romans konnte sich das konservative Österreich dank der Verfilmung durch Karl Hartl schon 1948 aussöhnen. Im Film wird vieles geglättet, das Objektiv auf die Liebesverwicklungen scharf gestellt und das, was für Ernst Lothar zentral gewesen ist – die Hommage an einen Widerstandskämpfer –, getilgt. Das Problematischste an Hartls Adaption aber ist die in der filmischen Praxis vollzogene Entnazifizierung der Wiener Schauspielgrößen des NS-Filmgeschäfts: Paula Wessely spielt mit ebenso großem Engagement die Jüdin Henriette Stein wie sie 1940 in Veit Harlans NS-Propagandafilm „Jud Süß“ brilliert hatte; Attila Hörbiger rehabilitiert sich als untadeliger Klavierfabrikant Franz Alt, der sich gegen den Willen der Familie „jüdisch versippt“ und von Gattin Henriette schändlich betrogen wird.

Lothars Roman aber ist vielschichtiger und vor allem, er ist über weite Teile auch raffiniert erzählt. Wie er zu Beginn des Romans die Bewohner des Patrizierhauses in der Seilerstätte 10 in ihrer familiären Verstrickung vorstellt, ist große Erzählkunst. Die Stimme gehört der uralten bigotten Tante Sophie Alt, die letzte lebende Tochter des Dynastiegründers, die mit ihren durchwegs abschätzigen Porträts in die Familiengeschichte einführt. Als basales Urgestein der Familie wohnt sie im Erdgeschoß des Hauses, doch auch sie kann die Verehelichung Franz Alts mit Henriette Stein nur missbilligen, nicht verhindern. Das tut auch Onkel Otto Eberhard nicht, der honorige Staatsanwalt, schließlich ist Henriettes Vater ein angesehener Universitätsprofessor und erster Jurist im Land, was der Karriere nützlich sein kann. Gegen diese Art von Verlogenheit kämpft Henriette dann genauso vergeblich wie gegen die nach Senioritätsprinzip und Geschlecht ein für alle Mal zugewiesenen Rollen – für sie gilt die der verachteten „fremdrassigen“ Angeheirateten.

Das sind gute Voraussetzungen für ein unglückliches Frauenleben. Um 1900 erwuchsen solche Konstellationen meist aus den Vernunftheiraten zur Wahrung oder Mehrung des Familienvermögens wie des Familienansehens. Lothar schwächt dieses Faktum etwas ab: Es ist Henriette selbst, die vor dem ungewissen Schicksal einer Kurzzeitgeliebten des Kronprinzen Rudolf in die Ehe mit dem ehrenwerten, aber ungeliebten Franz Alt flüchtet. Dadurch stehen ihr mehr Handlungsoptionen offen, und vor allem können soziale Inkompetenz und Tollpatschigkeit des Gatten sie genauso wenig zerbrechen wie das unerfreuliche Familienambiente – sie reagiert nicht mit zeittypischen Hysteriephänomenen, sondern eben mit erotischen Außenaktivitäten.

Insofern hat die eingangs zitierte Rezension mit dem Einwand, die „krass niedere Ehemoral“ sei „nicht typisch für das damalige Österreich“, irgendwie recht. Denn es ist tatsächlich nicht typisch, dass der Roman praktizierten Ehebruch und sexuelles Begehren – abgesehen von den beiden angeheirateten Ehemännern, dem Maler Drauffer und einem ebenso draufgängerischen Oberst – nur dem „Sauerteig“-Element Henriette zuordnet, die „es“ von ihrer Mutter geerbt hat und an ihre Tochter weiterreicht.

Die Herren Staatsanwälte und Fabrikdirektoren aber, die das so stattliche wie düstere Bürgerpalais bewohnen, zeigen sich in diesem Punkt absolut untadelig und scheinen die Chambres séparées der Zeit nicht zu nutzen. Das tut dann nur Henriette mit ihrem adeligen Liebhaber, bis ihn der Gatte im Duell vor den Augen seines aus Erziehungsgründen mitgebrachten Sohnes Hans erschießt. Die Moral gehört bei Lothar der gutbürgerlichen Herrenwelt an – über deren sexuellen oder sonstigen Ausritten liegt Schweigen, es gibt sie also nicht. Obwohl das Täuschende der Fassade mit dem barocken Engel über dem Portal durch den Romantitel so zentral in den Raum gestellt wird, bleiben Scheinmoral und Fassadenhaftigkeit bürgerlicher Wohlanständigkeit weitgehend unangetastet. Das ist eine der Schwächen des Romans.

Die andere hat mit dem Genre eines historischen Romans zu tun, der österreichische Geschichte von 1888 bis Ende 1938 an den Geschicken einer Familie abzuhandeln trachtet. Das bringt kompositorische Probleme und verlangt mitunter etwas klischeehafte Komprimierungen, wie die Synchronisierung von Henriettes Hochzeitstag mit dem Selbstmord von Kronprinz Rudolf in Mayerling. Gibt es zwei Söhne, muss einer nach ganz rechts rücken – Henriettes Sohn Hermann wird illegaler Nazi –, und der andere nach links: Hans Alt sympathisiert mit den Sozialdemokraten, fühlt sich aber dem alten Österreich verpflichtet, ist also politisch nicht eindeutig verortet, wie es seiner zögerlichen Haltung durchaus entspricht. Auf Romanebene gehen vielleicht auch deshalb die Arbeiterkämpfe vom Februar 1934 so nahtlos in den NS-Juliputsch über, eine der historisch problematischsten Stellen des Buches.

Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten aber und nachdem seine Mutter, Henriette, von der Gestapo ermordet wurde, beginnt Hans, entschlossen zu handeln. Just aus dem gelben Salon im Haus Nummer 10, in dem einst bei der Hauseinweihung Mozart gespielt haben soll, betreibt Hans Alt einen illegalen Sender. Diese Tat aber, das hat Ernst Lothar schon 1944 mitgeteilt, hat ein reales Vorbild.

„Vor kaum 20 Jahren mussten Amerika und England erinnert werden, was Österreich ist; heute muss man Österreich daran erinnern. Hat es oder will es vergessen, wer es in den Abgrund stürzte? Bildet sich eine Heldenlegende um die Hermann Alts und ihre Einpeitscher?“, schrieb Lothar 1962 in einem Nachwort für die Neuausgabe des Romans. Hier teilt er seinen Lesern auch mit, dass das reale Vorbild des Widerstandskämpfers Hans Alt seinen Mut mit fünfeinhalb Jahren KZ bezahlen musste. ■

Ernst Lothar

Der Engel mit der Posaune

Roman eines Hauses. Mit einem Nachwort von Eva Menasse. 544 S., geb., € 26,80 (Zsolnay Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)

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