Definiert durch die Kuh

„Wunderbare Jahre“: Goethe tat es, Handke tut es – also schreibt auch Sibylle Berg über das Reisen. Das ja nicht mehr ganz so toll ist wie früher in der guten alten Zeit. Denn fast überall dräuen, kaum verborgen, üble Gefahren.

Sibylle Berg lesen: Das ist unterhaltsam wie Late-Night-TV, aber jetzt im neuen Buch auch noch mit sozialem Gewissen. Reisereportagen aus einer Zeit, in der das Reisen noch angstfrei möglich war, fasst der Band „Wunderbare Jahre“ zusammen. Es sind Texte der vergangenen 20 Jahre, von denen viele auch schon einzeln, zum Beispiel in dem Magazin „Reportagen“, erschienen sind.

Für den Sammelband hat Berg ihre Reisereportagen um das ein oder andere Postskriptum ergänzt, mit Hinweisen auf terroristische Bedrohungen, die mittlerweile mit den beschriebenen Orten assoziiert werden: Reisewarnungen des Auswärtigen Amts etwa oder Daten und Statistiken von erfolgten Anschlägen, auch Zahlen zur Unterdrückung von Frauen in den jeweiligen Ländern.

Noch ist es nicht ganz so wie in dem Film „Brazil“. Da geht in einem Restaurant eine Bombe hoch. Routiniert räumt der Kellner die Leichen-, Möbel-, Geschirr- und Essensteile weg und stellt einen Paravent auf. Die anderen Gäste schauen nur kurz auf und speisen ungerührt weiter. Genau das macht Berg in ihren Texten nicht. In Tel Aviv, wo sie ihren zweiten Wohnsitz und (glaubt man dem Internet) seit mehreren Jahren einen „glatzköpfigen“ Ehemann hat, schlug zu Silvester 2016 ein Attentäter auf der Straße unmittelbar vor ihrer Wohnung zu.

Ob das ein Böller war?, fragt sich die Autorin, die zu diesem Zeitpunkt gerade versucht, an einem Drehbuch zu schreiben. Aber Böller zu Silvester gibt es in Israel nicht. Nur langsam kommt der Schreibenden zu Bewusstsein, was sich da einige wenige Meter von ihr entfernt gerade zugetragen hat. Nicht der Blick aus dem Fenster, sondern die Fernsehbilder, die schon bald danach über den Schirm flimmern, verschaffen ihr Gewissheit: ein Selbstmordattentäter mit einem Maschinengewehr. 2015, so das PS zu diesemText, gab es in Israel 1703 Terroranschläge, das ist einer alle vier Stunden.

Die klassische Form der Reportage lösen einige ältere Texte des Sammelbands ein. Da geht es in Gegenden, die nicht erst in den vergangenen paar Jahren gefährlich geworden sind, sondern es immer schon waren. Ein reisender Otto Normalverbraucher kommt dort niemals hin. Begleitet von einem Fotografen, also ganz offensichtlich,um die Sache zu dokumentieren, verschlägt es Berg, etwa in Burma, in einen Rebellentrupp oder im entferntesten Amazonien in ein Goldgräbercamp. Böse fremde Männer umstehen die Frau aus Europa, aber all diese Situationen lösen sich letztlich in Wohlgefallen auf. Die Fotos übrigens, die geschossen wurden, fehlen im Buch. Stattdessen finden sich darin durchgängig und glanzvoll Illustrationen von Isabel Kreitz. Wirklich bösartig wird es, wenn sich Frau Berg die Festivitäten der europäischen Hochkultur antut.

Bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth erinnern sie die Gesichter der männlichen Besucher bestenfalls an Stoiber, schlimmstenfalls an Mengele. Auch an der Marthaler-Inszenierung lässt sie kein gutes Haar („Tristan sieht aus wie Konsul Weyer“), Schlingensief dagegen ist außer Obligo. Schließlich mündetdas Ganze in einer Reflexion auf Deutschland: „Was ist nur aus den Deutschen geworden? Wie traurig ist das alles? Diese fettwurstfressende Gemeinschaft von Fußballprofis. Dass wir die Fahne wieder ansehen können, ohne uns zu übergeben, braucht sicher noch hundert Jahre.“

So richtig wohl fühlt man sich bei Berg, wenn man mit ihr gemeinsam ein fades TV-Programm anschauen darf. Etwa die Hochzeit von William und Kate. Dafür soll, wie man aus ihrem Bericht erfährt, das gleiche Datum gewählt worden sein wie für die Vermählung von Eva Braun mit Hitler. Prinz Harry aber habe an diesem Tag darauf verzichtet, die Hakenkreuz-Armbinde zu tragen. Sonst herrschte auch unter den anwesenden Damen vor allem eines: schlechter Geschmack. Dass man mit Fuchsia und Mauve nichts verkehrt machen kann, erwies sich als Irrtum. Nachsatz zu diesem Text: „In ganz Großbritannien werden muslimische Frauen durch Scharia-Gerichte systematisch unterdrückt, missbraucht und diskriminiert. Ein neuer Bericht zeigt, wie dadurch die Gleichheit der britischen Bürger vor dem Gesetz untergraben wird.“

Wohin man mit Sibylle Berg noch reisen kann? Zum Beispiel über das Mittelmeer mit einem Kreuzfahrtschiff der Linie Costa. Wenn nicht gerade ein unfähiger Kapitän ein Riesenschiff vor einer Küste versenkt, lässt sich mit ihm der Gewinn am Touristenvieh maximal optimieren, denn nur noch auf dem Schiff und nur für dieses geben die Leute ihr Geld aus. Auch vor Piraten ist das zahlende Publikum umso besser geschützt, je größer der Koloss ist. Berg – Titel ihres Textes: „Das Totenschiff“ – freut sich nicht am geselligen Bordleben. Megaschiffe sind Menschenmelkmaschinen und Umweltkiller. Mit gutem Gewissen kann heute niemand mehr eine Kreuzfahrt machen. Genauso wenig wie eine Safari („Afrika für Feiglinge“).

Drei der besten Texte des Bandes meiden die touristische Fremde. Es sind jene über Weimar (wo die Autorin geboren und aufgewachsen ist), Los Angeles (wo sie eine Zeit lang zu leben versuchte) und die Schweiz (wo sie in Zürich das halbe Jahr wohnt). Zu lernen ist, wie Klassikerkult und kleinbürgerliche Lebensform, Glamour und Armut zusammengehen und wie sich über einen Kuhkampf im Wallis der Schweizer definiert.

Gleich die erste Reportage des Bands führt die Autorin im Jahr 1999 in den Kosovo beziehungsweise nach Mazedonien. Der Bezug zu Peter Handkes Reiseberichten ist offensichtlich und direkt. Anders als bei ihm öffnet sich bei Sibylle Berg jedoch am beschriebenen Kriegshimmel kein Anflug von Versöhnung. Schließlich noch eine Reise nach Wien (oberflächlich wie alles, was über diese Stadt von Kurzzeiturlaubern gesagt wird). Mit einem PS, das schon heute nur noch eine verwehte Erinnerung ist: „Zudem sehen viele Bürger im FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache den besseren Kanzler als im Amtsinhaber Werner Faymann.“ Good Night, and Good Luck! ■

Sibylle Berg

Wunderbare Jahre

Als wir noch die Welt bereisten. Mit Bildern von Isabel Kreitz. 190 S., geb., € 18,50 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.