Nicht nur für Vampire

Blutgruppen sind in Japan nicht nur für Spender und Empfänger wichtig. Einst teilten Wissenschaftler die Kolonien danach ein, heute sollen sie den Charakter verraten. Die Japaner nehmen ihren Aberglauben ernst.

Pech im Spiel, Glück in der Liebe? Miho Noji hat die Hoffnung nicht aufgegeben. „Er hat Blutgruppe 0“, sagt sie und schaut nachdenklich in die Luft. „Mit A bin ich emotional und manchmal empfindlich, streng und ernsthaft.“ Zwar sieht Miho Noji nicht gerade streng aus: Ihr welliges Haar trägt sie offen, und anders als die meisten Frauen in ihrem Alter wagt sich die 27-jährige Büroangestellte auch in Turnschuhen aus dem Haus. Aber solche Widersprüche seien es, die die Blutgruppe A ausmachten, erklärt sie.

Und als Typ 0 müsste Nojis Exfreund eigentlich damit harmonieren. Leute wie er, so heißt es, sind egoistisch und unsensibel, aber ehrgeizig, leidenschaftlich und sozial. Da auch jede Frauenzeitschrift prophezeit, dass diese Kombination trotz ihrer Gegensätze funktioniert, glaubt Miho Noji selbst mehr als ein Jahr nach der Trennung noch an ein glückliches Ende.

Eine Fanatikerin ist Miho Noji nicht. In Japan kennt jeder seine Blutgruppe, die für viele nicht nur bei der Partnersuche ein Kriterium ist. Blutgruppen bestimmen nach japanischem Verständnis den Charakter, das Temperament und die berufliche Eignung. Politiker ziehen damit in den Wahlkampf, die Industrie nützt den Aberglauben aus. Auch die Wissenschaft kann diesen nicht entkräften, denn er wird noch ernster genommen als die Sternzeichen im Westen. „Ich weiß auch nicht, warum wir daran glauben“, sagt Noji, eine gebildete Akademikerin. „Aber fast alle tun es.“

Kinder lernen früh, dass sie sich ihre Blutgruppe merken müssen, und das nicht nur für den medizinischen Notfall. In der Schule teilt man sich spielerisch unter Verliebten auf. Wer Typ 0 ist, passt zum Typ A, wie bei Miho Noji und ihrem Ex. Dann gibt es noch alle anderen möglichen Kombinationen, die angeblich besonders gut oder überhaupt nicht zusammenpassen. Neben dem Schulhofgeblödel gibt es Kartenspiele, auch in Videospielen taucht das Blutgruppenmotiv auf. Es ist ein Zusammenhang, zu dem jeder eine persönliche Beziehung hat.

Die Faszination von Blut begann mit der medizinischen Forschung, in einer Zeit des „Rassenwahns“. Nachdem der japanische Arzt Kimata Hara 1916 erstmals den Zusammenhang zwischen Bluttypus und Charakter hergestellt hatte, dauerte es nicht lang, bis Forscher damit die unterschiedlich starken Widerstände in den von Japan kolonisierten Gebieten erklärten. Der Mediziner Takeji Furukawa berichtete in einem Papier von 1931, dass die Volksgruppe der Ainu auf der Nordinsel Hokkaido sich viel bereitwilliger als etwa die Taiwanesen hatten erobern lassen.

Gleichzeitig fand Furukawa heraus, dass unter den Taiwanesen 41 Prozent die Blutgruppe 0 hatten, unter den Ainu nur 23 Prozent. Da müsse ein Zusammenhang bestehen, dachte der Arzt. „Blutgruppe 0 haben Leute mit einer starken, störrischen und egoistischen Persönlichkeit“, meint auch Miho Noji aus eigener Erfahrung mit ihrem Exfreund zu wissen. Das sei genau jener Menschenschlag, den in den 1930er-Jahren das japanische Militär heranzüchten wollte, um geeignete Soldaten für die Eroberungskriege im Pazifik zu haben.

Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg ließ der Glaube an die bluttechnische „Rassenlehre“ nach, weil schlicht die wissenschaftliche Grundlage fehlte. Die Stichprobe der durch Takeji Furukawa untersuchten Personen war zu klein gewesen, von der tollkühnen Schlussfolgerung seiner Beobachtungen abgesehen. Was Blutgruppen voneinander unterscheidet, sind verschiedene Eiweißtypen in den roten Blutkörperchen. Dass diese in irgendeiner Weise den Charakter bestimmen, glaubt heute kaum noch jemand. Ein pseudowissenschaftliches Vergnügen ist das Ganze aber immer noch, und zwar eines, bei dem bald ganz Japan freudig mitspielt. Im Fernsehen werden täglich mehrereBlutgruppenhoroskope ausgestrahlt, und für jeden Typus gibt es alles Mögliche zu kaufen. Softdrinks, deren Zutaten bestimmte Charaktereigenschaften stärken, Badesalz, das typspezifisch entspannen soll, sogar Kondome, die durch die charakterlich passende Form und Stärke des Gummis den Sex verbessern sollen. Bücher, die Tipps zum gesellschaftlichen Umgang mit den Bluttypen geben, sind meist Bestseller.

Politiker entschuldigen mittels ihrer Blutgruppe auch ihre Fehler. Kurz nachdem Japans Regierung nach Erdbeben und Tsunami 2011 einen Wiederaufbauminister berufen hatte, musste etwa Ryu Matsumoto, der erste Amtsinhaber, schon wieder seinen Hut nehmen. In der Katastrophenregion hatte er Betroffene beschimpft. „Meine Blutgruppe B bedeutet, dass ich wütend und ungestüm werden kann. Da kommen meine wahren Gefühle nicht immer gut rüber“, erklärte ein kleinlauter Matsumoto danach. Japans Premierminister, Shinzō Abe, erwähnt hingegen gern, dass er Typ B ist, denn das macht ihn zu einer Führungspersönlichkeit.

Die Liebe geht durch das Blut

Selbst in der Wissenschaft hat sich das Thema noch nicht ganz verabschiedet. Der Religionsprofessor Terumitsu Maekawa von der Asia University in Tokio glaubt zwar nicht, dass Blutgruppen den Charakter bestimmen. Vage Tendenzen liest er aber schon ab. In seiner Arbeit beobachtet er etwa eine Korrelation zwischen dem Auftreten von Blutgruppen und religiösen Weltbildern: Im Westen, wo die Typen A und 0 überwiegen, verfolgten die Menschen vor allem monotheistische Religionen wie das Christen- oder Judentum. In Asien dagegen, wo es mehr Menschen der Gruppe B gibt, verehrten die Menschen mit Religionen wie Buddhismus oder Hinduismus nicht nur einen, sondern mehrere Götter.

Aber da hört es nicht auf. In Japans Schulen wird nicht nur von Spielen auf dem Schulhof berichtet, sondern auch von Mobbing aufgrund der Blutgruppen. Selbst bei Jobinterviews kommt die Frage nach A, B, AB oder 0. Muss so viel Glauben an etwas, das wissenschaftlich längst nicht mehr haltbar ist, nicht ungesund sein? „Na ja“, zögert Miho Noji und denkt wieder an ihr jüngstes Beziehungspech. Dann lächelt sie: „Es gibt Datingveranstalter, bei denen du deine Blutgruppe angeben kannst. Sie finden dann einen passenden Partner für dich.“ Das Gute daran, findet Miho Noji: An genügend Kunden, die verkuppelt werden wollen, mangelt es diesen Veranstaltern nicht. Es sei ein gutes Spiel zum Einstieg beim ersten Date: „Sag mir deinen Bluttyp, und ich verrate dir, ob es mit uns was wird!“ Vielleicht gebe es auf diese Weise einmal Glück bei beidem, dem Spiel und der Liebe. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2015)

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