Schuld sind immer die andern

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Frau (c) Erwin Wodicka - BilderBox.com
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Scheitert jemand in der Schule, waren die Lehrer eine Katastrophe. Randalieren Jugendliche am Bahnhof, hatten sie eine schwere Kindheit. Gibt es Probleme mit Zuwanderern, fehlt es an einer Willkommenskultur. Über das Ende der Verantwortung.

Wer heute noch von Schuld und Sühne spricht, macht sich verdächtig. Und dies nicht nur, weil Fjodor Dostojewskis berühmter Roman,der diese Formel zu einer fast alltagssprachlichen Wendung werden ließ, aktuell eher unter dem Titel „Verbrechen und Strafe“ zu finden ist. Jenseits der Frage, welche Übersetzung dem russischen Original angemessener sei, drückt sich in dieser kleinen begrifflichenVerschiebung eine geänderte Einstellung zu den damit verbundenen Problemen aus. Verbrechen und Strafe: Das verweist auf die Normen und Gesetze einer Gesellschaft, für deren Übertretung oder Bruch ein abgestuftes System von Sanktionen vorgesehen ist. Sowohl das, was in einer Gesellschaft als kriminelles Handeln gilt, als auch, wie darauf reagiert werden soll, kann jederzeit modifiziert, umgestoßen, reformiert, neu definiert werden. Vieles, was vor Jahrzehnten noch als Verbrechen, zumindest moralisch anstößig galt, ist heute akzeptiert, vieles, was vor Jahrzehnten noch normal war, gilt heute als verwerflich.

Ist aber von Schuldund Sühne die Rede, geht es nicht nur um übertretene Gesetze und dafür vorgesehene Sanktionsmöglichkeiten. Bei Schuld gehtes um mehr und anderesals um ein gesellschaftlich nicht akzeptiertes Verhalten. Schuld: Das kann alldas bedeuten, was man im Sinne einer Urheberschaft verschuldet hat. Schuld kann aber auch das heißen, was man einem anderen schuldet, was man, im übertragenen und wörtlichen Sinn, zurückzahlen muss. Schon Nietzsche hatte darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff der Pflicht, dass das moralische Sollen seinen Ursprung in der ökonomischen Schuld hat: Jemand hat das Recht, etwas, was er mir gegeben hat, zurückzufordern. Dieser Forderung nachzukommen ist meine Pflicht. Wer Schulden hat, der schuldet jemandem etwas, und erlädt weitere Schuld auf sich, wenn er diese Schulden nicht begleichen kann. Dies gilt auch im übertragenen Sinn, wenn etwa davon die Rede ist, dass „die Gesellschaft“ einerbestimmten Gruppe von Menschen etwas schuldet. Schuld kann aber auch bedeuten, dass wir an jemandem schuldig werden können, indem wir sein Leben oder seine Lebenschancen beeinträchtigen. Schuld kannman in mannigfacher Form auf sich laden, absichtlich und unabsichtlich, und es gehört zu den großen Einsichten der griechischen Tragödie – man denke an König Ödipus –, dass der Mensch auch schuldlos schuldig werden kann.

Letztlich geht es bei der Frage nach der Schuld darum, inwieweit der Mensch als Urheber seiner Handlungen begriffen werden muss, für die er vor anderen und vor sich selbst einstehen kann. Deshalb meint auch Sühne mehr als nur die Abgeltung einer Schuld oder die Strafe, die jemandem füreine nicht beglichene Schuld oder ein unerwünschtes Verhalten auferlegt wird. Sühne steht nicht nur in einer formalen Beziehung zu einer Tat – indem etwa ein angemessener Strafrahmen festgelegt wird –, sondern in einer inhaltlichen: Wie kann, nachdem etwas getan und diese Tat als falsch und verwerflich erkannt wurde, noch reagiert werden? Wie kann auf die Frage „Warum hast du das getan?“ noch geantwortet werden? – Bei derFrage nach Schuld undSühne geht es in einemfundamentalen Sinn umdie Frage der Verantwortung.Im Begriff der Verantwortung steckt die Antwort. Und jede Antwort impliziert eine Frage. Sich verantworten bedeutet in einem ganz ursprünglichen Sinn, auf eine gestellte Frage antworten zu können – oder schärfer: antworten zu müssen. Wo, aus welchen Gründen auch immer, keine Frage gestelltwerden kann oder gestellt werden darf, gibt es keine Verantwortung. Verantwortung setztimmer einen Fragesteller und einen Befragten voraus.

Menschen, die großmäulig Verantwortung übernehmen, ohne gefragt worden zusein, sollte man deshalb mit Vorsicht begegnen. Umgekehrt gilt aber auch: Man soll sich hüten, von jemandem Verantwortung einzufordern, den man entweder nicht fragen kannoder sich nicht zu fragen getraut. Wer also trägt Verantwortung, wer kann Verantwortung einfordern, wer kann für wen und unter welchen Bedingungen Verantwortung übernehmen?

Der moderne Mensch, vor allem der aufgeklärte und selbstkritische Europäer, scheintgerne Verantwortung zu übernehmen. Anders gesagt, er fühlt sich für vieles, eigentlich für fast alles verantwortlich. Ob es sich um das Weltklima oder den Krieg im Irak handelt, um die Sprachprobleme von Migranten oder die Zustände in Zentralafrika, ob es um die Bildung der Mädchen oder die Gewaltbereitschaft der Knaben, um die Lungen der Raucher oder den Leibesumfang von Pubertierenden geht, um die Auseinandersetzungen in der Ukraine oder den Zölibat in der katholischen Kirche, um das Glück der wenigen und das Unglück der vielen – die Verantwortung, so scheint es, liegt bei ihm. Für allesnimmt er die Schuld auf sich – wenn nicht als Person, so doch als Teilhaber an einer Kultur,die sich angeblich schuldig gemacht hat und von der er sich, indem er deren Schuld benennt, auch schon wieder distanziert. Wer immer dem Schulsystem, den Medien, der Gesellschaft oder dem Westen Verantwortung für was auch immer zuschreibt, hat sich selbst in der Regel von dieser Verantwortung dispensiert. Der moderne Mensch ist geradezu ein Verantwortungskünstler und Schuldverschiebungsstratege.

Wer andere auf diese Art und Weise großzügig von der Verantwortung entlastet, spricht diesen allerdings ab, für sich selbst die Verantwortung übernehmen zu können. Und in der Tat machte sich jeder einer falschen politischen Ansicht verdächtig, der auf die Idee käme, aggressive Jugendliche, schlecht integrierte Muslime oder lernschwache Schüler für ihre Lage selbst verantwortlich zu machen. Nein, die Verantwortung liegt immer woanders, nie bei den Akteuren. Gibt es Probleme mit Zuwanderern, fehlt es an einer Willkommenskultur; ziehen junge Dschihadisten aus London oder Wien in den Irak, um Ungläubige zu köpfen, gab es für sie unzureichende Angebote zur Integration; randalieren Jugendliche am Bahnhof, hatten sie eine schwere Kindheit; verspielt jemand sein Vermögen an der Börse, wurde er schlecht beraten; scheitert jemand in der Schule, waren die Lehrer eine Katastrophe; studieren zu wenig Frauen technische Physik,hat die Gesellschaft versagt. Was gilt eigentlich der Wille des Einzelnen in solch einer Welt verschobener Verantwortlichkeit?

Leben wir also schon nach dem Ende der Verantwortung? Eine grundlegende Voraussetzung für die Zurechnung von Verantwortung ist Freiheit, sind Selbstbewusstheit und Selbstbestimmtheit einer Handlung. Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer im Zustand der Unfreiheit und Unmündigkeit befinden, können keine oder nur eine abgestufte Form der Verantwortung übernehmen. Das ist auch der Grund dafür, warum jemand, der sich seiner Verantwortung für sein Handeln entledigen will, alles daransetzen wird, für den Zeitpunkt seiner Handlung oder generell seine Unfreiheit zu behaupten. In der Regel bedeutet dies, die Verantwortung an jemand anderen zu delegieren – an den Trieb, der übermächtig war; an das Rauschmittel, das eingenommenwurde; an den Befehl, der vom Vorgesetzten gegeben wurde; an den Sachzwang, der keine Alternative zuließ; an die traumatischen Erfahrungen der frühen Kindheit, die nun keine andere Handlungsmöglichkeit mehr erlaubten; an die Gesellschaft, die uns in diese Zwangslage gebracht habe; oder gleich an unser Gehirn, das ganz allein, ohne uns zu fragen, schon entschieden hat.

Wie plausibel, verständlich und nachvollziehbar wir solche Behauptungen im konkreten Fall auch immer finden mögen:Wir müssen uns klar darüber sein, dass wir in dem Moment, in dem wir solche Erklärungen akzeptieren, auch die Unfreiheit des Handelnden unterstellen müssen. Er hört auf, für uns ein souveräner und gleichberechtigter Gesprächs- und Handlungspartner zu sein, der uns Rede und Antwort stehen könnte. Wirkönnen uns einem solchen Menschen gegenüber nur noch fürsorglich, paternalistisch, therapeutisch, protektionistisch, abwehrend oder ignorant verhalten.

Urheber unseres eigenes Handelns und deshalb dafür verantwortlich zu sein bedeutet nicht nur, in einem juristischen Sinne „schuldfähig“ zu sein, also die Konsequenzen dieses Handelns zu tragen; es bedeutet auch, sich selbst zu diesem Handeln im Nachhinein verhalten zu können und sich mit der Frage, wie gut oder schlecht dieses Handeln war, auseinanderzusetzen. Der Philosoph Max Scheler hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Mensch das Wesen ist, das bereuen kann. Man kann Handlungen nicht ungeschehen machen; aber man kann sie bereuen. Reue ist kein leerer Gestus, keine ritualisierte Sprachformel, sondern die späte Einsicht, dass es besser gewesen wäre, etwas nicht getan zu haben. Diese Reue eröffnet nicht nur den Spielraum für verschiedene Formen der Sühne, sondern auch die Möglichkeit, es in Zukunft anders, wenn möglich besser zu machen. Menschen, denen man das Gefühl der Reue ausredet, indem man ihnen einredet, dass sie ohnehin nie anders hätten handeln können, werden so auch um die Chance gebracht, ihre Handlungen zu überdenken und zu verändern. Erst „unbereute Schuld“, so Scheler, hat auf die Zukunft „jene determinierende und bindende Gewalt“, die gerne als etwas „Unabänderliches“ behauptetwird; Reue dagegen schafft neue Handlungsmöglichkeiten. In diesen Zusammenhang gehört auch diealltagspsychologische Vermutung, dass Schuldgefühle generell als Instrument der Unterdrückung den Menschen manipulativ eingeredet werden. Das mag in manchen Fällen wohl so sein; dass jemand Schuldgefühle hat, bedeutet aber nicht, dass er generell unschuldig ist. Allerdings muss zugestanden werden, dass eine Konsequenz jeder Verantwortungsentlastung die Abwesenheit von Schuldgefühlen sein wird.

Unter welchen Bedingungen wir Verantwortung für unser eigenes Handeln tragen und vor wem wir dieses verantworten müssen, ist die eine Frage. Die andere Frage ist aber die nach den Bedingungen, unter denen wir Verantwortung für das Handeln anderer Menschen übernehmen wollen oder übernehmen müssen. Die in der Politik und im sozialen Leben immer wieder angesprochenen Verantwortungsträger sind ja nicht für ihre Handlungen verantwortlich, sondern sie sind durch diese Handlungen für das Leben und die Lebensmöglichkeiten anderer Menschen verantwortlich. Was kann dies bedeuten? Die Übernahme von Verantwortung hat eine ganz spezifische Voraussetzung: Macht. Nur wo ein Machtverhältnis existiert, kann jemand Verantwortung für andere übernehmen, weil Macht bedeutet, Dinge zu tun, von denen andere Menschen in einem gravierenden Sinn betroffen sind. Wer nicht die Macht hat, etwas zu tun, dem ein anderer ausgeliefert ist, kann dafür auch keine Verantwortung übernehmen. Von dem spätantiken Stoiker Epiktet stammt der unüberbietbare Satz: „Das eine steht in unserer Macht, das andere nicht.“ Nur dort, wo etwas in unserer Macht steht, hat die Rede von Freiheit und Verantwortung einen Sinn, nur dort, woandere Menschen unserer Macht unterworfen sind, wächst mir aus dieser Macht Verantwortung für diese Menschen zu.

Generell gilt: Verantwortlich handeln könnennur Einzelne. Aber Einzelne sind nicht für alles verantwortlich, was geschieht. Es gibt auch die Zuständigkeiten von Organisationen, Kollektiven,Institutionen, Gesellschaften, die einer eigenen Dynamik gehorchen. Wo jedoch verläuft die Grenze zwischen dem, was in den Verantwortungsbereich der Menschen fällt, und dem, was an Institutionen welcher Art auch immer delegiert werden muss? Wir leben ja, wie es so schön heißt, in einem Zeitalter der Individualisierung. Individualisierung bedeutet aber generell die zunehmende Verlagerung von Verantwortlichkeit in den Bereich des Einzelnen. Vieles, was gegenwärtig unter Stichworten wie Privatisierung, Eigenverantwortung oder Autonomisierung verhandelt wird, folgt diesem Prinzip. Verantwortlichkeiten, die bisher bei der organisierten Gesellschaft lagen, von dieser repräsentativ wahrgenommen und kontrolliert wurden, werden nun an den Einzelnen delegiert. Dort, wo der Einzelne die Macht und die Möglichkeiten hat, diese Aufgaben zu übernehmen, bedeutet dies in der Tat einen Zugewinn von Freiheit. Die Delegation von Verantwortung an Einzelne ist deshalb nur dort sinnvoll, wo diese auch in der Lage sind oder in diese gesetzt werden, die damit notwendig verbundene Macht auch auszuüben. Objektiv zynisch ist es deshalb, Menschen dort mit Verantwortung auszustatten, wo sie keine Möglichkeit haben, diese tatsächlich wahrzunehmen.

Das rechte Maß im Zuordnen von Verantwortlichkeiten zu finden stellt eine immense Herausforderung an eine Zeit dar, in der die traditionellen Zuordnungsschemata ins Wanken geraten sind. Inwiefern sind wir – wer ist wir? – zum Beispiel tatsächlich für eine gerechte Verteilung der Güter dieser Erde, für eine intakte Natur und für eine lebenswerte Zukunft verantwortlich? Wer trägt die Schuld für jene bedrohlichen Entwicklungen, die wir euphemistisch als Klimawandel bezeichnen? Der einzelne Autofahrer? Die Industrie? Eine mobilitätsbesessene Gesellschaft? Die Frage nach der Urheberschaft und der damit zusammenhängenden Verantwortung ist gerade im Bereich derÖkologie gleichbedeutend mit der Frage: Wer wirddarunter leiden? Wer wird für die Folgekosten aufkommen? Wem werdenwir etwas schulden, weil esunsere Schuld war? Und wer übernimmt die Verantwortung für jene Weichenstellungen etwa imBereich der biomedizinischen Technologien, deren Folgen erst in Jahren oder Jahrzehnten umfassend zu spüren sein werden?

Als der Philosoph Hans Jonas im Jahre 1979 unter dem Titel „Das Prinzip Verantwortung“ seine „Ethik für die technologische Zivilisation“ vorlegte, glaubten viele, dass damit jenes Prinzip gefunden sei, das den Fortbestand der menschlichen Gattung auf diesem Planeten sichern könnte. Denn der aus diesem Prinzip Verantwortung abgeleitete Imperativ lautete bei Hans Jonas: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Hans Jonas hatte mit diesem Imperativ versucht, die Zukunft selbst, die Natur und die ungeborenen Generationen zum Gegenstand unseres Verantwortungsbereiches zu machen. Keinerdieser Kandidaten hat allerdings die Macht, uns zur Verantwortung zu ziehen – weder die Zukunft noch die ungeborenen Generationen, noch die Natur können mit uns in einen Kampf um die Verantwortung treten. Das Prinzip Verantwortung kann nur als eine aus Einsicht und Sorge selbst auferlegte Pflicht verstanden werden, oder es kann uns von Menschen aufgenötigt werden, die plausibel und mit Macht als Stellvertreter der Zukunft, der Natur, der Tiere, der ungeborenen Generationen auftreten und in deren Namen sprechen können. Woher aber wissen die Anwälteder Zukunft, was die zukünftigen Generationen wirklich wollen? Es ist keine auferlegte, sondern eine angemaßte Verantwortung damit verbunden, die wie jede Anmaßung auch ihre zweifelhaften Seiten hat.

Die Formulierung des Imperativs der Verantwortung durch Hans Jonas macht uns auf ein weiteres Problem aufmerksam:Er sprach von der „Permanenz echten menschlichenLebens“ als Leitfaden unseres verantwortungsbewussten Handelns. Was jedoch ist echtes menschliches Leben? Die Formen und Verhältnisse, in denen Menschen zumindest bisher gelebt haben, lassen keinen eindeutigen Schluss zu, dass es einen weltweiten Konsens darüber geben könnte, was diese Echtheit auszeichnen soll. Die dramatischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Medizin und Biotechnologie – denen ja Hans Jonas' Reflexionen galten – sorgen überdies dafür, dass uns diese Frage in immer neuen Varianten gestellt wird. Sind Embryonen schon echtes menschliches Leben? Werden genetisch veränderte oder technisch optimierte Menschen noch echtes menschliches Leben sein? Oder gehört der unbändige Forschungsdrang, mit dem Ziel, die technische Kontrolle über Geburt und Tod und über die genetische, physische und psychische Ausstattung des Menschen zu erlangen, nicht erst recht zur Echtheit menschlichen Lebens? Die Risiken, die wir zurzeit mit diesen Forschungen und ihren industriellen Anwendungen eingehen, sind beträchtlich. Ob und vor wem wir dies je zu verantworten haben werden, ist allerdings offen.

Wer die Macht scheut, soll von Verantwortung nicht sprechen. Wer will, dass wir für das, was wir tun, auch verantwortlich gemacht werden können, muss die Macht haben, uns zu zwingen, Rede und Antwort zu stehen. Und umgekehrt gilt: Wenn wir wollen, dass jemand für das, was er tut, verantwortlich ist, müssen wir ihn zwingen können, uns Rede und Antwort zu stehen. Dort, wo wir den Anspruch haben, freie Wesen zu sein, sollen wir die Verantwortung für unser Tun nicht bei anderen suchen. Dort, wo es gilt, für andere Verantwortung zu übernehmen, sollte dies weder aus reiner Machtgier durch die einen noch aus reiner Bequemlichkeit durch die anderen geschehen; vor allem sollte man darauf achten, dass man sich beim Übernehmen von Verantwortung nicht übernimmt. Dort aber, wo mit großer Geste freiwillig Verantwortung für andere übernommen wird, sollten wir mehr als vorsichtig sein.

Die Bevormundung des Menschen durchInstanzen, die suggerieren, nur sein Bestes zu wollen, indem sie ihm die Fähigkeit absprechen, selbst Entscheidungen zu treffen und für deren Folgen einzustehen, infantilisieren den Menschen nicht nur; sie beschneiden nicht nur seine Freiheit; sie nehmen ihm auch die Würde. Wer von Kindesbeinen an lernt, dass immer andere für das eigene Verhalten verantwortlich gemacht werden können, bleibt nicht nur an diese Kindesbeine gefesselt. Er ist dann auch darauf angewiesen, dass für ihn die Verantwortung übernommen wird. Er bleibt Objekt von fürsorgenden, vorsorgenden, kontrollierenden und therapierenden Verfahren, auch und gerade wenn man dabei ständig vonSelbstverantwortung spricht. Verantwortung setzt Freiheit voraus. Und Freiheit impliziert immer ein Risiko. Auch das zur Selbstschädigung. Zur Verantwortung gehört die Selbstverantwortung. Und zur Selbstverantwortunggehört die Möglichkeit zu einem Handeln, das andere verantwortungslos finden können. Nur sollte man dann auch die Kraft und den Mut haben, dafür einzustehen – mit allen Konsequenzen.

Genau um diese Form der Verantwortungging es dort, wo früher einmal von Schuldund Sühne die Rede war. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2014)

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