„Guten Tag, Herr Mister Morton“

THEMENBILD: CAFE 'LANDTMANN'
THEMENBILD: CAFE 'LANDTMANN'(c) APA/GEORG HOCHMUTH
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Zum 90. Geburtstag am 5. Oktober: Verlobung im Landtmann – Erinnerungen eines Emigranten.

An einem sehr kalten Februarnachmittag des Jahres 1923 trotzte ein junger Mann, der in einem Außenbezirk Wiens lebte, einem Schneesturm, um eine junge Frau abzuholen, die noch weiter draußen wohnte. Eine längere Straßenbahnfahrt führte die beiden zur Station Schottentor im Stadtzentrum. Auf dem Weg ins Café Landtmann auf der Ringstraße kuschelten sie sich bebend in ihre Mäntel. Sie bestellten sehr heißen Kaffee und warmen Apfelstrudel. Sobald der junge Mann sich ordentlich gestärkt hatte, bat er den Ober um eine frische Serviette. Natürlich war es eine Ringstraßen-Serviette, ganz anders als die Servietten aus seiner Wohngegend. Sie war zwar auch aus Papier, griff sich aber an und sah aus wie Stoff und war noch dazu mit einer vornehmen Bordüre eingefasst.

Eine solche Serviette legte der junge Mann nun der jungen Frau hin, zusammen mit einem Bleistift, den er unversehens aus der Jackentasche gezogen hatte. „Schreib jetzt bitte meinen Nachnamen hierhin“, sagte er zu der jungen Frau. Erstaunt schrieb die junge Frau den Namen Mandelbaum. „Gut“, sagte der junge Mann. „Und jetzt schreib links von meinem Nachnamen deinen Vornamen.“ Freude durchschoss die junge Frau – und sie beschloss augenblicklich, sich nichts anmerken zu lassen. Ohne eine Miene zu verziehen, schrieb sie „Rosl“ vor den Namen Mandelbaum.

„In Ordnung?“, fragte der junge Mann.

„In Ordnung?“, wiederholte die junge Frau, immer noch hoch zufrieden, aber auch ein wenig gereizt. „Was ist in Ordnung?“

„Na, was sagst du dazu?“, fragte der junge Mann.

„Wozu?“, erwiderte die junge Frau unnachgiebig und verbiss sich nach wie vor ein Lächeln. „Warum sagst du nicht, was du meinst?“

„Du weißt verdammt genau, was ich meine!“ Der junge Mann packte mit beiden Händen die ihren. „Warum, glaubst du, hab ich dich bis hierher gebracht? Bei diesem Sauwetter! Ins Landtmann auf die Ringstraße!“ Zehn Monate später, im Dezember 1923, heirateten sie. Das Hochzeitsfest fand im Café Landtmann auf der Ringstraße statt. Ein Jahr später kam ihr Sohn Fritz Mandelbaum (der spätere Frederic Morton) zur Welt, dessen Bar Mitzwa 1937 im Café Landtmann auf der Ringstraße gefeiert wurde.

Nach dem Vorstadtempfinden meiner Familie konnten die Höhepunkte des Lebens nur auf der Ringstraße gebührlich begangen werden. Mein Großvater Bernhard Mandelbaum, ein gebürtiger Galizier, hatte diesen Brauch eingeführt. Er war Ende der 1860er-Jahre nach Wien gekommen und hatte zunächst im verschlafenen 17. Bezirk als Lehrling eines Schmieds Hufeisen gehämmert. Schon bald regte sich in ihm ein starker unternehmerischer Geist, der ihm eingab, dass er sich im nächsten Jahrhundert nach einem Kundenstock umsehen sollte, der nicht aus Pferden bestand. Innerhalb von fünf Jahren wurde aus dem Hufschmiedlehrling ein Werkzeugmacher und Metallarbeiter mit Meisterprüfung. Innerhalb von zwei Jahrzehnten stieg er vom Vorarbeiter zum Werkstattinhaber, schließlich zum Unternehmer auf, der mehr als einhundert Mitarbeiter beschäftigte und auf Bestellung aufwendige Schmuckwaren wie militärische Orden und staatliche Verdienstzeichen sowie hochwertige Manschettenknöpfe, Krawattennadeln, Schuhschnallen und vieles mehr fertigte.

Sein Aufstieg verlief zeitlich und räumlich komprimiert. Seine Fabrik entstand nur ein paar Häuserblocks von der alten Hufschmiede entfernt. In diesen eher grauen Flecken eines Arbeiterbezirks floss seine ganze Hingabe, die er auch uns allen einimpfte.

Die luxuriösen Wohnhäuser in den vornehmen Gegenden um den gerade in Entstehung begriffenen Ring waren nichts für ihn. Er fühlte sich auf dem ausgetretenen Kopfsteinpflaster seiner Jugendtage zu Hause. Während sich finanziell Gleichgestellte in die Badezimmer ihrer Villen Bidets einbauen ließen, lebte er dort so einfach wie seine Angestellten in einer bescheidenen Bassenawohnung. Hier investierte er auch einen großen Teil seines Vermögens. Er kaufte beinahe die Hälfte der Häuser in unserer Gasse auf. Es war das Jerusalem von uns Mandelbaums.

Aber es war ein Jerusalem, das des Rückhalts und schützenden Beistands habsburgischer Macht bedurfte, die von der Ringstraße herüberwehte. Entscheidende Wendepunkte in der Mandelbaumschen Chronik mussten bestätigt werden, den Segen der imperialen Aura erhalten.

Nach 1918 löste sich das Kaiserreich jedoch in Luft auf. Außerhalb des immer noch glanzvollen Kreisrunds des Rings war das neue Österreich zu einer maroden Perversion des wahren Traditionsbewusstseins verkommen. Die ausgemergelte Republik konnte der Erhabenheit, nach der unsere besonderen Anlässe verlangten, nicht gerecht werden.

Nur die Ringstraße kam diesem Bedürfnis – in großzügigster Weise – entgegen. Wenn wir unseren Fuß auf ihr Pflaster setzten, beförderte uns ein marmorner Festzug über den Dächern noch einmal in luftige Höhen. Gekrönte Adler, geflügelte Götter, emporsteigende Engel, Heilige mit Glorienschein und Helden mit Lorbeerkranz verströmten eine magische Würde. Wie der Prägestempel eines öffentlichen Notars besiegelten sie auf wundersame Weise jedes besondere Ereignis in unserem Leben.

Bei prosaischeren Gelegenheiten setzte der Ring jedoch ein ganz anderes Gesicht auf. Wenn meine Mutter mich zum Einkaufen in die Innere Stadt mitnahm, überquerten wir die breite Allee recht hastig. Die große Weite, die aufgeblähten Silhouetten reduzierten uns zu Zwergen.

Die monumentalen Gesten, die uns umgaben, beflügelten die Seele nicht; sie warfen einschüchternde Schatten. Und die Statuen auf den Dächern mit ihren erhobenen Schwertern, schwankenden Wägen und geschwungenen Zeptern – sie alle schienen zu einem gewaltigen, unheimlichen Schweigen gefroren. Zu einem Schweigen, das etwas noch viel Überwältigenderem und Unheimlicherem harrte.

Und das trat 1938 auch ein. Ein neuer Herrscher donnerte durch die imperiale Kulisse. Und jene weiten, prunkvollen Plätze, jene hoch aufragenden gotischen Türme, jene erhabenen klassischen Säulen bildeten mit einem Mal den feierlichen Rahmen für den wie Trommelschläge tönenden Aufmarsch Zehntausender Stiefel, verstärkten das aus zahllosen Kehlen dringende und von Stolz und Zorn erfüllte Gebrüll und ließen es widerhallen.

Und wir Mandelbaums, die wir schon durch unseren Namen gebrandmarkt waren, mussten immer noch in die Innere Stadt, diesmal, um als Bittsteller in ausländischen Konsulaten vorstellig zu werden. Dort standen wir geduckt an und bangten um unsere Visa. Um uns herum schien die Ringstraße ein mit Reißzähnen bestücktes Reich zu feiern, das darauf lauerte, uns zu verschlingen. Wir entkamen seinen Fängen in letzter Minute, im Juli 1939.

Erst im September 1951 sollte ich wieder über den Ring spazieren. Auf dem Umschlag meines Passes war kein Hakenkreuz mehr zu sehen. Er trug das Siegel der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich hieß nicht mehr „Fritz Israel Mandelbaum“ (den zweiten Vornamen hatte mir das Dritte Reich verpasst), sondern „Frederic Morton“. Und unter „Beruf“ stand nicht mehr „Schüler“, sondern „Schriftsteller“.

Als 26-Jähriger war ich von einem großen Nachrichtenmagazin, das im mächtigsten Land der Welt erschien, beauftragt worden, eine Geschichte über eine Stadt zu schreiben, die durch ihre jüngste Vergangenheit moralisch immer noch angeschlagen und von einem verlorenen Krieg sichtbar gezeichnet war. Auf der großen ringförmigen Prachtstraße ragten hinter Gerüsten und Planen palastartige Gebilde auf, die nach den Bombardements auf den Wiederaufbau warteten.

Ich hätte auf dem Trottoir dahinstolzieren sollen wie ein erwachsen gewordener Yankee-Eroberer, der die zerstörten Stätten seiner Kindheit besuchte. Stattdessen kam ich mir vor wie ein Möchtegern, ein falscher Amerikaner. Ich bewegte mich plötzlich mit den unsicheren Schritten eines Judenbuben fort, dem im Hinterhalt der Anschluss auflauert. Woher sollte ich den Mut nehmen, meiner für den nächsten Tag vorgesehenen Aufgabe nachzukommen: das Herzstück der Ringstraße, die Hofburg selbst, zu betreten und den österreichischen Bundespräsidenten höchstpersönlich zu interviewen?

Die Gerüste setzten mir am meisten zu. Ich fürchtete, dass die wuchtigen vermummten Formen zu meiner Linken und Rechten jeden Augenblick ihre Hüllen abwerfen könnten. Wie würden sie sich mir dann zeigen? Als die einst Schutz gewährenden majestätischen Überbleibsel aus den Tagen Franz Josephs? Oder würden sie mir unheilvoll entgegenragen, ein Thronsaal des imperialen Dämons, der sich 1939 aufgeschwungen hatte, uns zu zerstören?

Doch dann, immer noch unsicheren Schritts auf dem Ring unterwegs, erspähte ich das Kopftuch unterhalb der Tafel der Straßenbahnstation Schottentor, wo Frau Marie und ich verabredet waren. Im Nu war ich guter Dinge.

Die Farbe des Kopftuchs war ein verblichenes Blau, kein verblichenes Grün, wie ich es in Erinnerung hatte. Sie trug immer noch ein Musselinkleid mit verblichenem Blumenmuster: Nur reichte der Saum jetzt hinunter bis zu den hochgeknöpften Schuhen, weil ihre Gestalt geschrumpft war. In ihrem Gesicht (das bemerkte ich, sowie ich näher kam) hatten sich Falten gebildet – um die Stupsnase und das Kinn mit den Grübchen, unter dem sie – die Köchin meiner Großmutter – stets das Kopftuch festzog. Aber die Augen blitzten immer noch in dem verwegenen Himmelblau, das ich so gemocht hatte, wenn wir in Omas Hinterhof in Ottakring Fangerl gespielt hatten.

Wie waren wir dort um den rostigen Brunnen geflitzt! Wir schossen hin und her und vor und zurück und lachten, bis unweigerlich Fräulein Thomas, meine Erzieherin, auftauchte und sich streng räusperte. „Schluss jetzt, Fritz“, sprach sie mit blecherner Stimme. „Du hast deine Erkältung noch nicht auskuriert. Schluss damit!“ Und Frau Marie, die wie ich einen Moment innegehalten hatte (aber kaum außer Atem war), richtete sich auf, zog das Kopftuch unterm Kinn fester und sagte: „Joh, joh, scho guat, a paar Sekunden no.“ Sogleich stob sie auf mich, der ich davonstob, zu, und wir spielten noch ein paar Minuten.

Und als ich nun noch näher gekommen war und mich an all das erinnerte, stellte ich mir plötzlich vor, wie sie ihr Kopftuch genauso festgezogen haben mochte, als die Gestiefelten sie und Oma fortgebracht hatten – Oma nach Theresienstadt und Frau Marie drei Monate ins Gefängnis, weil sie ihre Lebensmittelmarken mit einer Jüdin geteilt hatte.

Und so breitete ich, nun bei ihr unter der Straßenbahntafel eingetroffen, die Arme aus und rief: „Frau Marie! Wie schön! Was für ein Wiedersehn!“ Aber sie erwiderte meine Umarmung nicht. Sie ließ die Arme seitlich herabhängen. Sie sagte nicht: „Ja servus, Fritzerl!“ Sie sagte: „Guten Tag, Herr Mister Morton.“ Als wir uns auf den Weg zum Café Landtmann machten, war ihre Hand samt Handtasche zwischen uns. Immerhin erkundigte sie sich förmlich nach dem Befinden meines Vaters und meiner Mutter. Ich wiederholte, was ich ihr schon am Telefon gesagt hatte, nämlich wie von Herzen dankbar meine Familie ihr für die heldinnenhafte Treue zur Mutter meiner Mutter war. Sie wischte meine Worte beiseite. „Dös worn schiache Johr“, sagte sie. Offenbar hatte sich die Hässlichkeit dieser Jahre zwischen uns gedrängt.

Kurz darauf waren wir beim Landtmann. Ich hielt ihr die Tür zu dem Kaffeehaus auf. Aber sie blieb stehen. „Was, hier?“, sagte sie. „Warum nicht, Frau Marie?“, sagte ich. „Dös is nix für mi.“ „Bitte, Frau Marie“, sage ich. „Das war doch ein spezielles Café für unsere Familie. Und Sie sind doch auch etwas ganz Spezielles für uns. Bitte, Frau Marie.“

Langsam, die Handtasche an die Brust gedrückt, ging sie hinein. „Schönen guten Tag“, begrüßte mich der Oberkellner. Er wandte sich Frau Marie zu und zeigte auf die Garderobe: „Für Ihr Kopftuch, bitte.“ Sein „Bitte“ klang viel härter als mein „Bitte“. Und als er Richtung Garderobe ging, schwang in seinem bestimmten Gang ein unausgesprochenes „Sie täten gut daran, mir zu folgen!“ mit.

Frau Marie, die sich noch immer nicht vom Fleck rührte, flüsterte: „Mei Haar san net kämmt.“ „Bitte“, sagte der Oberkellner mit stählerner Höflichkeit von der Garderobe her, „mit Kopftuch wird es Ihnen hier zu warm werden.“ Mit der Hand wies er auf die im Landtmann aufgereihten Damen, die über einer Tasse Melange miteinander Konversation machten, viele mit modischen Hüten, die schräg auf schicken Frisuren saßen. Der Anblick übersetzte sein „Zu warm“ in ein „Zu elegant für Sie“.

Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas sagen sollte, wusste aber nicht, was. Mir, dem Starjournalisten aus New York, hatte es die Sprache verschlagen. Wenn ich mit dieser läppischen Ringstraßen-Peinlichkeit nicht zurande kam, wie sollte ich ein Interview mit dem österreichischen Bundespräsidenten in der Hofburg zuwege bringen?

Doch da sagte Frau Marie: „Es is' net so warm da.“ Sie zog das Kopftuch unter dem Kinn fest. „I hab scho Heißeres erlebt.“ Dann marschierte sie an der Garderobe vorbei auf einen Fenstertisch zu. „Bravo, Frau Marie!“, flüsterte ich, als ich neben ihr herging. Und zum ersten Mal lächelte sie mir zu. Der Oberkellner verband ein leichtes Achselzucken mit einer angedeuteten Verbeugung. In der Niederlage Haltung bewahrend, winkte er einem Kellner.

Als wir uns hinsetzten, hatte ich auf einmal das Gefühl, dass das morgige Interview mit dem Präsidenten ein Klacks würde, dass ich abermals einen Initiationsritus der Ringstraße durchlaufen hatte, dass ich nun fähig war, den Wiener Walzer der Ambivalenz zu tanzen – alles dank Frau Marie. Nun liebte ich sie noch mehr als damals, als wir vor so langer Zeit Fangerl gespielt hatten. Als der Kellner Besteck und Servietten brachte, musste ich einem inneren Drang widerstehen: Ich wollte ihr meine Serviette geben, damit sie meinen früheren Nachnamen darauf schrieb und dann, links neben „Mandelbaum“, „Frau Marie“. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2014)

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