„Es war zu Hause nie ein Thema“

Sie heißen Denise, Manuel und Koci, ihre Wurzeln reichen vom Burgenland bis nach Ägypten, und alle sind sie Schüler eines Wiener Gymnasiums. Gemeinsam haben sie an einem Projekt des Vereins „March of Remembrance and Hope – Austria“ teilgenommen: einer Reise nach Auschwitz mit Vor- und Nachbereitung.

Sie heißen Denise und Amir, Manuel und Koci, Max, Sara und Riad. Ihre familiären Wurzeln reichen vom Burgenland bis nach Ägypten, von Wien-Döbling bis nach Syrien und Bosnien. Alle sind in Wien geboren und besuchen das Bundesgymnasium/Bundesrealgymnasium Pichelmayergasse. Das moderne, großzügig angelegte und Licht durchflutete Schulgebäude liegt auf einer grünen Insel mitten in Favoriten.

Die 16-jährigen Schülerinnen und Schüler sind an diesem Vormittag noch etwas übermüdet. 41 von ihnen sind erst vor zwei Tagen von einer dreitägigen, anstrengenden Busreise nach Hause gekommen. „Ich konnte einen Tag lang überhaupt nicht reden. Ich habe es mir nicht so schlimm vorgestellt“, sagt die dunkelhaarige Koci, und der Blondschopf Max pflichtet ihr bei: „Ich war von der Größe der Schornsteine, dem Ausmaß des Geländes total überrascht.“ Die beiden sprechen von ihrer Reise nach Polen in das Stammlager Auschwitz I und vom Fußmarsch nach Auschwitz-Birkenau, dem Vernichtungslager. „Dass nach so vielen Jahren noch immer so viele Leute hierherkommen“, wundert sich Sara.

Gemeinsam mit etwa 500 Jugendlichen aus Österreich und Tausenden aus ganz Europa nahmen die beiden Klassen aus der Pichelmayergasse an dem Programm teil, das der unabhängige, gemeinnützige Verein „March of Remembrance and Hope – Austria“ österreichischen Schülern und Schülerinnen anbietet. Dieses mehrmonatige Projekt von MoRaH umfasst sowohl Seminare für die Lehrkräfte als auch ein Vorbereitungs- und Nachbereitungsprogramm im Geschichtsunterricht. „Unser Ziel ist die Erziehung zu mehr Menschlichkeit, Toleranz und Zivilcourage“, erklärt Olivia Pixner-Dirnberger, Obfrau des Vereins. „Während der Vor- und Nachbereitungsarbeit erkennen die Jugendlichen sehr klar, dass es bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit um unsere Verantwortung für das Heute geht. Dass die Grundmechanismen, die einst zum Holocaust führten, dieselben sind, die heute noch wirksam sind, wenn es um Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus geht.“

„Ich habe meine Tränen kaum unterdrücken können“, erzählt Manuel, der schon zum zweiten Mal mitgefahren ist. „Dabei war es beim ersten Mal noch schlimmer.“ Bei der Führung durch die Ausstellung in Auschwitz I musste Koci den Raum verlassen. „Ich habe eine elf Monate alte Schwester zu Hause, und als ich diese Riesenberge von Kinderschuhen gesehen habe, die Glasvitrine mit den abgeschnudelten Puppen und mit Spielzeug, da musste ich hinaus.“ Auch Sara konnte schwer fassen, was sie in einem Schaukasten sah. „Da gab es Überreste von menschlichen Haaren, die in Teppiche und Matratzen verwoben waren.“ Die Fotos der abgemagerten Babys, auf deren Armen bereits Nummern eintätowiert waren, gaben ihr den Rest. „Ich war so geschockt, dabei habe ich schon früher eine Themenarbeit über Anne Frank geschrieben. Aber auf den beschrifteten Koffern der Deportierten und Ermordeten waren Adressen aus meinem Bezirk zu lesen – das hätten ja Nachbarn von uns sein können“, erregt sich Koci, die aus einem christlich-syrischen Haushalt stammt.

Ihre Mutter ist Ärztin und hat sie fahren lassen. Einige moslemische Eltern haben ihren Kindern die Fahrt untersagt, obwohl diese mitmachen wollten. Die Reise ist mit einem Beitrag von 275 Euro nicht billig, aber der Verein MoRaH hilft aus. „Die Kinder müssen zu uns kommen, dann erhalten sie einen Zuschuss. Aber das ist oft eine Frage des Stolzes“, meint Geschichtsprofessorin Heide Königshofer. „Ohne MoRaH ginge überhaupt nichts“, denn die Kosten für die begleitenden Lehrerinnen und Lehrer übernimmt auch der Verein.

Im Vorfeld der Reise findet ein zweitägiger Workshop statt, der die Lehrkräfte emotional und thematisch auf das Programm vorbereitet. Hier werden die Erwartungen und Befürchtungen ebenso besprochen wie die pädagogischen Ziele und der gesamte Umgang mit der heiklen Thematik. „Bei der mehrtägigen Geschichts-, Gedenk- und Begegnungsreise nach Polen sind die Jugendlichen klassenweise unterwegs und werden von einem Team aus Psychologen, Sozialarbeitern und deutschsprachigen Tourguides begleitet, die ihnen auch ständig als Ansprechpartner dienen“, erklärt Pixner-Dirnberger. Seit der Gründung von MoRaH im Jahr 2007 haben schätzungsweise 3000 Schüler und Schülerinnen an dem Programm teilgenommen.

Auf dem kalten Steinboden der Aula liegen in einem großen Kreis A4-Fotokopien. Die 13 gräulichen Abbildungen zeigen junge, fröhlich lächelnde Einzelporträts: Buben in Lederhosen, Mädchen in Dirndln, aber auch elegant gekleidete Familien in bürgerlichem Ambiente. „Bitte, schaut euch die Bilder an und wählt eines aus“, ruft Martina Lumesberger, Professorin für Geschichte, in die lärmende Menge. Anschließend bilden die beiden sechsten Klassen kleinere Arbeitsgruppen mit je einer Foto-Unterlage. Im PC-Raum beginnt ein Teil der Vorbereitung auf die schwierige Reise: Jeder Schüler, jede Schülerin hat ein Zeitzeugeninterview abrufbereit zur Verfügung. Sie halten zwar das Kinderfoto eines jungen Menschen in der Hand, sehen aber eine alte Frau, einen alten Mann auf dem Bildschirm. Mittels Kopfhörer lauschen sie den Lebensgeschichten einer Generation, die eher ihre Urgroßeltern als ihre Großeltern sein könnten. Die 13 Porträts sind gut durchmischt: Die Erlebnisse der Wiener Widerstandskämpferin Elisabeth Jäger, die das KZ Ravensbrück überlebte, werden Riad, Sara und Amir etwas später auf einem Plakat im Flur der Schule zusammenfassen. Die zarte Denise widmet sich mit ihrer Gruppe dem Schicksal der nach Auschwitz deportierten Sonja Waitzner und hält sie in Stichworten ebenfalls auf einem Plakat fest.

„Ich möchte, dass sie bei der Reise jemanden im Kopf haben, sich einen konkreten Menschen vorstellen können,“ so Martina Lumesberger. Die DVD mit dem Titel „Vermächtnis – Verfolgung, Vertreibung und Widerstand im Nationalsozialismus“ ist eine Produktion von „erinnern.at“, einem Lehrerbildungsprojekt im Auftrag des österreichischen Unterrichtsministeriums.

Alle 13 österreichischen Schicksale haben auf improvisierten Plakaten mit Fotocollagen, Rotem Stern und Judenstern sowie Kurztexten ihren Platz gefunden. Die drei- bis vierköpfigen Arbeitsgruppen tauschen ihre Informationen zu den Porträtierten aus. Sie zählen auf, welche Ereignisse sie im Leben dieser Menschen als bemerkenswert empfunden haben, etwa die Flucht nach Shanghai oder den rettenden Kindertransport nach England.

Geradlinig und gesittet beten sie die Eckdaten herunter: Denise macht es gestikulierend, Manuel und Daniel schon wesentlich cooler. Doch es bleibt bei einer auferlegten Pflichtübung – und auch die wenigen unter den Abgebildeten, die heute noch leben, wirken irgendwie steril, tot. Die Frage, warum er auf diese Reise nach Polen mitfährt, beantwortet Max sehr offenherzig: „Ich möchte mir ein Bild machen, jetzt habe ich noch gar keine Vorstellung.“

Die Jugendlichen können auf ihren PCs die tragischen Erzählungen dieser Menschen im Originalton abrufen, aber die Stimmen erreichen ihr Gemüt nicht. Die Welt, in der diese Menschen lebten und litten, muss ihnen noch fremd bleiben. Der emotionale Einbruch in ihre Gefühlswelt kommt – für alle gleichzeitig – durch die Begegnung mit einem 101-jährigen Mann in der Gedenkstätte in Auschwitz. Max, Amir und Sara reden plötzlich alle durcheinander, sie übertrumpfen sich gegenseitig mit ihren individuellen Erinnerungsfetzen: „So viel Humor, bei so viel Leid“, staunt Sara. „Er war insgesamt sechs Jahre in verschiedenen KZs und erinnert sich an seine Vorfreude auf jedes Weihnachtsfest: Denn da gab es Wurst, sonst aber nur schrecklichen Brei“, so Max. Und Amir geht gleich ins Grundsätzliche: „Ich bin fasziniert von diesen Menschen, wie sie überlebt haben. Woher nahmen sie den Mut und die Hoffnung?“

Mehr als zweieinhalb Stunden hat der Salzburger Marko Feingold mit der österreichischen Reisegruppe verbracht und aus seinem bewegten Leben erzählt. „Und er redete und redete – und sie wurden nicht müde, ihm zuzuhören“, erinnert sich Königshofer. Jeder und jedem Einzelnen blieb ein anderes Segment aus Feingolds Erzählungen im Gedächtnis. Der mehr als sechsmal so alte Zeitzeuge machte ihnen das Unfassbare verständlicher, das bis dahin Abstrakte greifbarer. Er löste den emotionalen Knoten: „Wir haben gehört, wie es wirklich war. Das ist etwas ganz anderes als ein Film oder eine DVD“, ist Amir überzeugt. Und Max sekundiert: „Es war alles erschreckend, und trotzdem war es gut, dort gewesen zu sein.“ Und wie haben seine Eltern nach der Rückkehr auf seinen Bericht reagiert? „Sie haben mir jetzt zugehört, aber es war zu Hause eigentlich nie ein Thema: Meine Großmutter war bei Kriegsende erst zwei Jahre alt und meine Eltern hatten andere Interessen.“ Denise ist überzeugt, dass sie noch lange brauchen wird, um das alles zu verarbeiten, auch wenn ihre Eltern sehr unterstützend gewirkt haben.

Die Erlebnisse waren für die Jugendlichen zu einschneidend, um auf die Nachbereitung im Geschichtsunterricht warten zu können. Bereits im Bus auf der Rückreise wurden die Lehrerinnen mit Fragen eingedeckt: Warum wurden gerade die Juden als Opfer ausgesucht? Was ist mit den Tätern passiert? Waren alle Sadisten? Die meisten Antworten gaben sich die 16-Jährigen gleich selbst. Riad diagnostizierte den Neid der Deutschen auf die Juden als Ursache. Amir sprach von Gehirnwäsche und Propaganda; Max und Koci konstatierten als Folge daraus die Dynamik des Gruppenzwangs. Die Frage, ob so etwas heute wieder möglich wäre, verneinte Denise mit dem Hinweis: „In diesem Ausmaß sicher nicht, unsere Kommunikationswege würden das heute nicht zulassen.“ Manuel meinte, es gebe noch den Gulag und Guantanamo, aber der damalige Ansatz, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen niedrigere Wesen seien, die kein Recht auf ein normales Leben hätten, wäre heute nicht mehr durchsetzbar. Aber Diskriminierung oder Mobbing haben sie schon erlebt? „Oh, ja, und es hat mir keiner geholfen“, kommt es kleinlaut vom großen, kräftigen Riad. An Selbstmord habe er als religiöser Moslem aber nicht gedacht, denn „das wäre ein One-way-Ticket zur Hölle“.

Ein Programmpunkt der Polen-Reise ist die Teilnahme an der Gedenkstunde „March of the Living“ im ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau: Die österreichische Delegation erinnert sich hier gemeinsam mit Tausenden Jugendlichen aus der ganzen Welt an die Opfer der Schoa. Auf die bedrückenden zwei Tage folgt eine kleine Erleichterung, nämlich die Besichtigung der Krakauer Altstadt. Ein Blick in die jüdische Kultur und Tradition, wie sie heute gelebt wird, gelingt mit dem Besuch in der Synagoge. Hier stimmen Österreichs Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg und Kantor Shmuel Barzilai fröhliche Lieder an. „Beim Singen und Tanzen hat man einen großen Zusammenhalt gefühlt,“ begeistert sich Sara. „Trotz alldem war in der Synagoge in Krakau so viel Lebensfreude zu spüren.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2014)

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