Klara lernt, Nein zu sagen

APA/GEORG HOCHMUTH
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Während die österreichische Politik, befeuert vom bildungsgläubigen Mittelstand, ruhmlos Schulreformen debattierte, prüfte meine Tochter die Praxis. Vom Versinken in Entenhausen oder: Klaras erstes Schuljahr.

Ich bin ja keiner dieser Vollzeitväter, die ein Schultagebuch ihres Kindes führen. Es wurmt mich aber, dass ich so gut wie keine Erinnerungen an meine eigene Volksschulzeit habe. Also versuche ich der nächsten Amnesie vorzubeugen und beginne zu erzählen.

Der erste Schultag meines Kindes war eigentlich ein Schnuppertermin im Juni des vorigen Jahres, zu dem wir mit Verspätung erschienen. 15 Kinder saßen im Kreis, die Neulinge auf den Schößen der Mütter. Kaum mehr als die Hälfte der Sechs- bis Achtjährigen schaffte es, vernehmlich Name und Alter zu nennen und eine Lieblingsbeschäftigung anzugeben. Als das letzte Kind an die Reihe kam, sagte es mit heller Stimme: „Ich heiße Klara, bin sechs Jahre alt und streichle am liebsten meinen Kater.“ – „Was, du hast schon einen Kater! Wie heißt er denn?“, wollten die Erwachsenen wissen. – „Mozart!“, antwortete Klara, und alle Frauen warfen mir Blicke zu.

„Wie lange bleibt man in dieser Schule?“, wollte Klara auf dem Heimweg wissen. „Vier oder neun Jahre“, gab ich zur Antwort. – „Ich vier.“

Dass die nächstgelegene öffentliche Schule eine Reformschule war, schien in Ordnung. Mehrstufenklassen, Behinderteninklusion, Waldorf- und Montessori-Pädagogik, keineNoten, kein Frontalunterricht, Lernbegleiter anstelle von Lehrern – eine Umkehrung der Schulen konnte nur möglich sein, wenn sie sich auf selbst motiviertes Lernen stützen.

September. Zum offiziellen Schulbeginn erschienen sonnengebräunte Familien, Taufpaten, Mütter mit frisch rasierten Beinen und ältere Kinder, die zu meiner Überraschung ihre Lehrkräfte umarmten. Klara bestand darauf, zusätzlich zu der mit Fotos beklebten Schultüte auch ihre pfauenbestickte Schultasche mitzuschleppen.

Am selben Tag demonstrieren Lehrer gegen die geplante Reform ihres Dienstrechts. Eine Unesco-Studie schätzt die Zahl der Analphabeten in Österreich auf 800.000.

Der Stundenplan verhieß recht viel Neues. „Fließender Lerneinstieg“ und „Ausflugfenster“ und „Atelierschiene“. Das Leben im Stiegenhaus machte den Eindruck einer Art improvisierter Party, zu der jeder willkommen war, der an die Tür klopfte. Man sah Sockenkinder, Gestresste, Saumselige und Körper, die bewohnt waren wie Köpfe.

Als Erstes verlangte Klara „vegetarisch mit Schnitzel“, womit die Mittagskantine überfordert war. Dann ließ sie ihre Kleider im Schrank hängen. Zum Tutor erkor sie eine unauffällige Brillenträgerin. Lucy war nicht der Star der Gruppe, doch sie war begeistert von den Oliven und Grissini in unserer Schuljause.

Bemerkenswerterweise besuchten dieSchule weit weniger Migrantenkinder, als in der Umgebung wohnten. Vielen Zuwanderern erschien eine offene Schule ohne Ziffernnoten unheimlich. Umso stärker prägten überengagierte Bobos mit ihrem Community-Denken das Geschehen. Ich beobachtete beimAbholen, wie Supermamis mit Nachmittagsbetreuern besprachen, welche Kinder miteinander spielen sollten. – Klara konnte bereits vor dem Schuleintritt schreiben. Nun führte sie zu Hause plötzlich ein Tagebuch, fügte Worte mit den falschen Buchstaben stets in korrekten Abständen zu vollständigen Sätzenzusammen. Lesen konnte sie dennoch nicht.

Am letzten Tag des Monats gab die Bildungsministerin ihren Rückzug aus der Politik bekannt. Dass Verluste ihrer Partei der Grund dafür waren, glaubte kein Mensch im Land.

Oktober. Wenn mir die Namen der Lernbegleiterinnen nicht einfielen, nannte ich sie:die Strenge, die Nette und die Dicke. Klara favorisierte die Nette. Weniger Gefallen fand ich an den Nachmittagsbetreuern, die mir immer mit einem unterschwelligen Genervtsein entgegentraten. Ihre Arbeit wirkte wie ein ewiges Kaffeekränzchen. Mit den Eltern verkehrte die Schule via Website-Kalender, Mitteilungsheft und Handzettel, wobei die Informationen keineswegs immer übereinstimmten. Dazu kamen lästige Mails unseres Elternvertreters, die auf Spendenaktionen und TV-Sendungen hinwiesen. Die Schulbürokraten muteten uns „Lernabschnittskontrollen“, „Gesamtteamkonferenzen“, „Natur-Außenstellen“ und „Evidenzblätter“ zu. Noch schwerer wogen die Unsicherheiten der Verständigung über Grammatik mit Klara. Wie nannten diese Pädagogen das Verb, wie Gänsefüßchen? Wie sprachen sie die Buchstaben aus? Uns fehlte ein Glossar für den Schulbesuch; wie erst musste es türkischen Familien ergehen?

Zum Schulforum erschienen rund 70 Personen im Turnsaal, 52 davon stimmberechtigt. Der Schulleiter präsentierte Erfolgsstatistiken, und die fünf anwesenden Kinder konnten nur mit massiver Unterstützung der Großen den Probebetrieb eines Milchautomaten durchsetzen.

Als Klara schon im Bett lag, zerstob um 22.20 Uhr die Versammlung an der Frage, ob Lernbegleiter und Freizeitbetreuer am Mittagessen der Kinder kostenlos mitnaschen durften. Sollte ein Suppenbon eingeführt werden, der Elternverein die geschätzten 16.000 Euro im Jahr übernehmen?

Eine OECD-Studie bescheinigte selbst den geübtesten Lesern im Land unterdurchschnittliche Kompetenz, und nur noch jeder zehnte Jugendliche schrieb regelmäßig mit der Hand.

November. Donald Duck zog Klara täglichmehr in den Bann. In den Schulräumen lagen 50 „Lustiges Taschenbuch“-Bände mitDonald Duck herum. Klara erzählte, sie habe sich in den ersten Wochen gar nicht getraut zuzugreifen. „Ich habe gedacht, vielleicht gehören sie den Lernbetreuern.“

Unsere Kinder verglichen ihre Playmobilfiguren; Klara wünschte sich drei neue „Pegasuse“ vom Christkind. Der Schulwart trug mit ernster Miene eine Fledermaus in einer Pappschachtel hinters Haus. EinMarchfelder Biohof lieferte der Klasse „kontrolliert biologische Landgurken“ aus Marokko an, und ich hörte das erste Mal von einer „Süßigkeitenlade“ der Pädagogen im Schulzimmer.

Die schlimmste Keule in einer altersdurchmischten Klasse ist der Satz: „Dafür bis du noch zu klein!“ Der erste Schlag zerschmetterte die Füllfeder, mit der Klara seit zwei Jahren schrieb. Sie war den Rest des Jahres nicht mehr zu bewegen, eine in dieHand zu nehmen. – Die Kinder halfen einander rührend in der „Arbeitszeit“; in der Pause aber weigerten sich die Älteren ebenso selbstverständlich, den Jüngeren die Bedienung des Milchautomaten zu erklären.

Einige Familien der Erstklässler begannen, sich füreinander zu interessieren. Als Erstes steckte Gloria mit ihrer wunderbaren Mutter den Kopf durch unsere Tür.

Der von der Regierung ohne Einigung mit der Gewerkschaft herbeigeführte Ministerratsbeschluss zum Lehrerdienstrecht wurde als „Bruch der Sozialpartnerschaft“ gewertet.

Anderntags überzog die dicke Lernbegleiterin den Schulschluss um 20 Minuten, was Klaras Musikstunde gefährdete. Als ich wie ein bauchredender Dackel auf den Uhrzeiger wies, brüllte die Lehrkraft „Dos is jetzt wurscht!“ durch den Hof. Die Kinder mussten unbedingt noch die Eier, die sie in verschiedene Materialien verpackt hatten, aus dem ersten Stock fallen lassen.

Solche Papas wie ich warenunschlau, gefährdeten Albinos und den Weltraumsport.

Dezember. Die sündteure Schultasche blieb zu Hause. Klara wollte Jause und Mitteilungsheft lieber im Rucksack transportieren, wie alle anderen Kinder. Morgens durfte sie den Schulweg manchmal schon alleine machen.

Schwarze Flaggen wehten auf den Unis, weil die Regierung das Wissenschaftsressort strich.

Unserem Kind erschienen die Weihnachtsferien zu lang; wären wir nicht an das andere Ende Europas gereist, hätte es allein den Rucksack gepackt.

Jänner. Was für eine Kränkung, als die erste Erzählrunde nach den Ferien auf ganze zwei Sätze beschränkt wurde!

15 Erwachsene folgten dem Pflichttermin zur Leistungsschau der Kinder. Klara konnte in Ketten addieren. In einem Fangenspiel sollte sie die Reihenfolge von vier Wörtern eines Satzes ermitteln, fand statt der gesuchten aber eine andere Lösung. „Auch richtig!“, beschied die Pädagogin.

Neue PISA-Studien bestätigten das Integrationsversagen der Regelschule. Jeder neunte Volksschüler verfehlte Standards im Fach Mathematik.

Klara lernte Müllschüttelwörter und die Uhr, sie übte Geheimzeichen und reimte Fratze auf Glatze. Sie hatte sich schriftlich vorgenommen, im neuen Jahr nicht ängstlich zu sein, was den in der Schule gezeigten Werwolffilm nicht mit einschloss. Bei McDonald's zog sie sich tapfer einen Milchzahn aus dem Mund. Für Sekunden hielten die Tische ringsum den Atem an.

Februar. Eltern und Kinder organisierten ein Schulbuffet. Wer schleppte Aufstriche, Frischkäse, Toppings und Kuchen an? Wer holte Brot aus der Großbäckerei?

Klaras Wunsch, allein nach Hause zu gehen, kostete mich die letzten Sympathien der Nachmittagsbetreuer. Sie stimmten zunächst dem Vorschlag zu, das Kind allein bis zum Schultor zu schicken. Als das aber in vier Tagen nur zweimal pünktlich klappte, rannten sie zum Schulleiter. „Wenn Ihr weiter solche Zettel schreibt“, eröffnete uns Klara beim Abendessen, „flieg ich aus der Schule.“ Man hatte unser Kind unter Druck gesetzt. Was andere Eltern dazu gesagt hätten, wusste ich nicht, wollte aber wetten, dass es nicht das war, was sie dachten. Wir stimmten einer unnachvollziehbaren Abholvereinbarung zu und lebten fortan – bei einem Schulweg von fünf Minuten – entweder mit einer Zitterviertelstunde, in der niemand wusste, wo sich Klara gerade befand, weil die Betreuer nur Buben zeitgerecht nach Hause schickten; oder wir gingen sie abholen.

Der Nichtunterricht beschäftigte sich mit dem Weltall, vor allem mit der Frage, ob Pluto nun als Planet zu bewerten sei oder nicht. Die dicke Lernbegleiterin zog sich wegen eines Pflegefalls von der Schule zurück.

Der Stadtschulrat knöpfte sich eine AHS-Lehrerin vor, die in einer Legasthenie-Übung Schüler auf einem Arbeitsblatt das Wort „Neger“ suchen ließ. Und das Bundesinstitut für Bildungsforschung (Bifie) hatte durch ein Datenleck 400.000 vertrauliche Testdaten und37.000 Lehrer-Mail-Adressen unverschlüsselt nach Rumänien entkommen lassen.

Klara versank immer tiefer in Entenhausen. Um sie von den Missgeschicken der Familie Duck abzulenken, besuchten wir drei Comicsläden. Dort erhielt Donald mit Tim & Struppi eine ernsthafte Konkurrenz.

Der Schulleiter warf sich im Schulforum für finanzschwache Familien ins Zeug, wir debattierten über den Zuckergehalt von Joghurts und ein unwürdiges Handyverbot, das die Kinder zwang, ihre Facebook-Freunde auf der Toilette zu treffen.

März.Am Minoritenplatz wollte man keine PISA-Studien mehr sehen, der Sozialminister forderte Ausbildungszwang bis 18. Nur mehr neun Prozent der Mütter mit Schulkindern waren Hausfrauen, und nur 40 Prozent der Studierenden kamen mit ihrem Geld aus.

Endlich lernten sie Schreibschrift. Die Mädchen luden sich gegenseitig zu Geburtstagsfeiern ein, Klara spielte in fremden Kinderzimmern, durfte auch auswärts übernachten.

Der Schulleiter versuchte, für die delogierte Familie einer neunjährigen Schwarzen eine Bleibe zu finden. Da jemand sein Schreiben in die sozialen Netzwerke stellte, konnte er sich der Hilfsangebote kaum mehr erwehren.

April. Nach ihrem ersten Zeichentrickfilmwirkte Klara an ihrer ersten Radiosendung mit. Sie steuerte die botanische Sensation eines „Nebelblümchens“ bei, das man bei Nebel nicht sehen kann. Doch informierte sie uns jetzt nicht mehr über jede angebotene Nachmittagsaktivität. Sie hatte entdeckt, dass sie ohne uns Nein sagen konnte.

Die Schulmails wimmelten von „Ausgangs-“, „Sternen-“ und „Tanzprojektkindern“, es gab „Radlerinnen“ und „singfreudige Geschwister“ – wurde Klara da wirklich etwas Wertvolles mitgegeben? Was war von „kosmischer Erziehung“, was von „Körperbewusstseinstraining“ zu halten?

Aufgrund einer Fehlkalkulation gab es plötzlich keine Obstkisten vom Biolieferanten mehr. Klara teilte mit dem Mädchen aus der Nachbargruppe ein Versteck im Freien, wo die Köchinnen rauchten. Der Hof war ihr Gegenort, aber auch eine Zone des hemmungslosen Rivalisierens, diverser narzisstischer Bedürfnislagen. Gloria machte sich den Spaß daraus, Klaras Kappe in den Staub zu treten.

Buben und Mädchen spielten grundsätzlich getrennt. Das beliebteste Hofspiel der Mädchen hieß: „Wollt ihr Dienerinnen sein?“ Klara setzte mir drei Peergroups auseinander, die erste mit sechs Namen. Sie selbst gehörte einer zweiten Bande von „Babyschatzis“ an und bestand zugleich darauf, dass Lucy und sie auch jede eine Klasse für sich waren.

Die Bildungsministerin kündigte an, die Mittel für den Ausbau von Ganztagsschulen um 50 Millionen Euro zu kürzen. Der Beamtenminister tröstete die Bevölkerung damit, demnächst wieder Schulwarte und Sekretärinnen aufzunehmen.

Mai. Klaras Projekttage in einem steirischen Landerlebnisdorf gestalteten sich großartig. Sie schwärmte wochenlang von einem naturkundigen Sigi, von den Bubenspöttisch „die Ziege“ genannt, der die Kinder in die Geheimnisse vonLavagestein, Rettungsgriffen und Schnitzkunst eingeweiht hatte.

Schulfreundinnen kamen nun immer öfter zum Spielen zu uns. Im Schulforum gab der Schulleiter zu unserer Überraschung bekannt, dass man den Ausflugsnachmittag imnächsten Schuljahr streichen werde; die Nachmittagsbetreuer durften ihre Kaffeekonferenzen auf Kosten einer fixen Bewegungseinheit ausdehnen. Außerdem wurde den Kindern gestattet, beim Schulpersonal anzufragen, ob sie ihre Smartphones benutzen durften. Zur Probe schrieb man dabei das sichtbare Tragen eines Buttons vor.

Wieder wurde kein pädagogisches Argument für dieses Modell ins Treffen geführt. Als unsichtbarer Elefant schwebte ein erwünschtes Pausen- und Schulverhalten im Raum. Der Unterschied zwischen Reform- und Regelschule beschränkt sich im Grund darauf, dass sich der Normcore hier umständlicher durchsetzt.

Bei einem Besuch im ehemaligen KZ Mauthausen machte ein 14-Jähriger aus einerhöheren Klasse Schlagzeilen, als er mehrmals die Hand zum Hitlergruß hob. Die bildungsbürgerliche Buchkultur durfte vor meinemKind ausgerechnet ein TV-Promi, der Tanzschulunternehmer Thomas Schäfer-Elmayer, als „Lesepate“ vertreten.

Zwei Weinbergschnecken zogen in die Gruppe ein, Klara rollte mit dem Scooter zur Schule, und 27 Kilometer Radausflug kosteten sie keine Mühe. Ein Vater war sogar mit einem Tridem erschienen, um ungeübte Kinder aufzulesen. In den kühlen Donauauen angekommen, kletterte der beste Rapper der Schule auf eine Astgabel und versicherte uns zehn Minuten lang in durchzogenen Reimen, dass er so froh sei, mit seinem Penis verheiratet zu sein. – Klara favorisierte nun die abwesende Dicke als Lehrkraft,nannte Rechnen ihr Lieblingsfach, und Lucy versicherte, die Geschichte „In einer Minute um die Welt“ gut zu kennen.

Die in der Schule verteilte Kinderzeitung aus einem Medienhaus beschäftigte sich mit Laktoseintoleranz, Hamstern und dem Golfspiel. Ganz anders die ohne die Jüngeren produzierte „Weltallzeitung“ unserer Klasse: Sie berichtete von einem Burgenländer in der Millionenshow,der auch nach fünfmaligem Nachfragen nicht sagen konnte, auf welchem Planeten wir leben.

Juni. Bei der zweiten Leistungsschauübertraf Klara spielend die Mittelmäßigkeitihrer Eltern und führte uns Rechenkunststücke mit Kartonpyramiden vor, die wir nicht verstanden. Die Übungshefte waren voll, eine Tanznummer eingeübt.

Der Bildungsministerin erschienen die Sommerferien zu lang; sie feierte den regelmäßigen pädagogischen Einsatz von 50 Schulhunden in Klassenzimmern, während alternative Privatschulen sich künftig das Geld für die Förderung von ganztägigen Schulangeboten von den Ländern holen mussten.

Am Schnuppertag für die nächsten Erstklassler zählte ein Mädchen auf Anhieb bis 99, und ein Bub wollte sofort dableiben. Die Schule lud zu Gummistiefelwerfen undBreakdance beim Sportfest, Klara ersprintete sich eine Urkunde. Beim Besuch in einer echten Zeitungsredaktion verstand sie nur Bahnhof.

Zu guter Letzt verabschiedeten sich Schüler und Pädagogen bei einem Benefizkonzert im Schulhof voneinander; keineswegs erleichtert, sich über die Ferien nicht gegenseitig ertragen zu müssen. Klara trennte sich nur ungern vom Vergnügen, unter ihresgleichen aufzuwachsen, um nun ihren Übungssatz „Wir werden im Sommer in die Sommerferien fahren“ in Leben zu tauchen.

Zum Schulschluss kam freilich auch die kalte Dusche. Selbst die beste Schule ist ja immer noch eine Schule, kettet den Erwerb von Fertigkeiten an andere, dafür belanglose Aufgaben. Klara war enttäuscht, weil das Jahreszeugnis nur eine Note für Religion enthielt. „Wie soll ich jetzt wissen, wie gut ich bin!“ Eine generelle Individualisierung des Unterrichts hatte es nie gegeben. Klara war häufig mit Gloria zusammengespannt worden, und deren Mutter schüttelte nun den Kopf, weil ihr Kind nicht das fleißigere im Tandem gewesen sein sollte.

In Klaras Welt waren Babyschlümpfe undkrebskranke Kinder eingezogen. Sie hatte an Verkehrserziehung und Kreativem Tanz, an einem Gewaltpräventionsprogramm und missionarischer Mülltrennung teilgenommen. Das Kind hatte unter staatlicher Aufsicht Leihbücher und Muttertagsfoto, Eislaufschuhe und Origami durch die Gegend geschleppt – doch ihre größten Triumphe feierte sie außerhalb der Schule in einer Ballettklasse, auf einer Musikbühne und bei Bergtouren.

Klara hatte im letzten Kindergartenjahr 544 Buntstiftzeichnungen nach Hause getragen, durchschnittlich zwei pro Tag. Nun brachte sie die unbenützte Füllfeder und 13 Blätter heim, davon die Hälfte auf dem Niveau einer Dreijährigen. Sie hatten in sieben täglichen Schulstunden einfach keine Zeit zum Malen.

Bis zum Schuleintritt hatte Klara mindestens einmal am Tag ein Liedchen geträllert, sie sang Sum sum sum, über Stock und Stein, jetzt war der Gesang vollkommen verstummt.

Wieso hatte ich bloß gedacht, das müsste in den Schulen von heute irgendwie anders sein? Es hatte eben einen Grund, weshalb ich mich an nichts erinnern konnte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2014)

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