Den Mythos malen

Im Jahr 1848 erhielt Leopold Kupelwieser den Auftrag, die Geschichte Österreichs bildnerisch darzustellen. Ein heikles Unterfangen, denn wann beginnt diese Geschichte, was genau ist dieses Österreich, und wer hat die Deutungshoheit? Überlegungen ohne Ablaufdatum.

Am 12. März 1848 erhielt Leopold Kupelwieser, Professor für Historienmalerei an der Akademie der bildenden Künste, von offizieller Seite den Auftrag zur Ausschmückung des sogenannten Marmorsaales in der Niederösterreichischen Statthalterei. Das 1846/47 nach Plänen Paul Sprengers errichtete Gebäude in der Herrengasse war mit einem Freskenzyklus auszustatten, der dem Publikum die Geschichte Österreichs als farbigen Bilderreigen vor Augen führen sollte. Just einen Tag später, am 13. März 1848, stürmten Studenten das direkt benachbarte Niederösterreichische Landhaus; die darauf folgenden Tumulte markieren den Ausbruch der Revolution. Nun war Kupelwieser zwar von kaisertreuer, konservativer Gesinnung, zugleich aber auch ein mündiger, die politischen Geschehnisse reflektierender Bürger, der die Forderungen der Revolutionäre unterstützte, wie das 1849 entstandene Aquarell „Kaiser Ferdinand verleiht seinen Völkern Constitution“ und „Das freie Wort“ belegt.

Dennoch müssen die überstürzten Ereignisse unmittelbar bedrohlich auf ihn gewirkt haben: „Es gelang mir seit den Märztagen, mich bei allen Vorkommnissen in mein Asyl der Kunst zu flüchten und der Außenwelt nur die nötigste Aufmerksamkeit zu widmen“, wird er später an die Kaiserinwitwe Carolina Augusta schreiben. Welcher Art war nun dieses Asyl, das sich der Künstler inmitten und doch weitab der Turbulenzen seiner Zeit schuf?

Die Aufgabenstellung erscheint zunächst einfach: Die Geschichte Österreichs sollte dargestellt werden, wobei dem Künstler bei der Wahl der Motive freie Hand gelassen wurde – sofern die Grundgedanken „ernst und geistreich aufgefasst seien“. Aber schon auf den zweiten Blick erweist sich der Auftrag als ein heikles Unterfangen: Wann beginnt die Geschichte dieses Landes, was genau ist dieses Österreich, und wer hat die Deutungshoheit über seine Geschichte? In welchen Ereignissen sollte das „zusammengedrängte Gedenken“, wie Kupelwieser es nennt, verdichtet werden? Anders als in den deutschen Staaten, wo die wichtigsten monumentalen Geschichtszyklen zu diesem Zeitpunkt schon realisiert worden waren, konnte sich in Österreich ein einheitlicher Bilderkanon zur nationalen Geschichte nicht recht durchsetzen. Von den Schwierigkeiten bei der Auswahl der Themen zeugt eine Reihe von schriftlichen Konzeptentwürfen mit zahlreichen Korrekturen.

Dass der Zyklus keiner chronologischen Ordnung folgt, verwundert nicht weiter – denn wo beginnt die Geschichte eines Reiches, das ohne rechten Gründungsmythos auskommen musste? Ein historischer Moment oder ein Held, an dem man eine nationale Identität hätte festmachen können, fehlte in der österreichischen Monarchie. So verlegte Kupelwieser den Beginn kurzerhand in eine „graue Vorzeit“ und zeigt in einem farbig stark reduzierten Grisaille-Fries den Tod Marc Aurels. Was hat nun ein sterbender römischer Kaiser in der österreichischen Geschichte verloren? Sein Tod, so der Künstler, deute den Untergang des Weltreiches an, durch dessen Folgen sich Österreich überhaupt erst selbstständig entwickeln konnte. Schon der Beginn also ein Umweg und ein Untergang!

„Bedrohung aus dem Osten“

In einem zweiten, parallelen Fries wird der Sieg Karls des Großen gegen Hunnen und Awaren dargestellt. Karl der Große betritt hier als denkbar kleine, unscheinbare Figur die Bühne der Geschichte. Nicht mehr als ein etymologischer Konnex wird hier geschaffen, indem der Name Österreich von dem durch Karl den Großen gegründeten „Ost-Reich“ abgeleitet wird – mehr Bedeutung durfte dem fränkischen Helden in Vermeidung jeglicher nationalistischer Untertöne im Vielvölkerstaat Österreich nicht verliehen werden. Der im Kampf gegen die Hunnen und Awaren angedeutete Topos der „Bedrohung durch die (heidnischen) Reitervölker aus dem Osten“ hingegen tritt in der österreichischen Geschichtsmalerei vielfach und in unterschiedlichen Varianten zutage – am weitesten verbreitet wohl im Motiv der Türkenkriege, deren Helden Salm, Starhemberg und Prinz Eugen selbstverständlich auch in diesem Geschichtszyklus ihren glanzvollen Auftritt haben.

Durchaus beabsichtigt ist die historische Unschärfe in der Darstellung der Belehnung Albrechts I. durch Rudolf I., Stammvater des Hauses Habsburg. Kupelwieser retuschiert hier Geschichte durch eine bewusste Weglassung: Dargestellt wird nur Albrecht I., der das Lehen empfängt, nicht aber sein jüngerer Bruder Rudolf, der ebenfalls belehnt wurde – denn die darauf folgenden Erbstreitigkeiten führten letztlich zur Ermordung Albrechts durch seinen Neffen, Rudolfs Sohn Johann Parricida. Kupelwieser erstickte gleichsam jedes Konfliktpotenzial schon im Keim durch eine unauffällige Vereinfachung – einen Bruderzwist im Hause Habsburg gleich zu Beginn seiner Herrschaft könnte man wohl nur als schlechtes Omen deuten.

Kupelwieser stellt Rudolf IV. in seinem Gemälde „Die drei Erbauer der St. Stephanskirche“ als frommen Bauherrn dar, unter dessen Herrschaft der Stephansdom wesentliche Erweiterungen erfuhr. Wenige Jahre zuvor hatten Bauschäden eine Restaurierung am Südturm des Doms notwendig gemacht, unter dem Architekten Paul Sprenger wurde die Turmspitze mit einer neu eingebrachten Stahlkonstruktion gestützt. Die Arbeiten lösten bei Historikern, Künstlern und Architekten eine intensive Auseinandersetzung mit der Baugeschichte des Domes aus, dessen Baurisse – auch jener des nicht vollendeten Nordturms – am Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste aufbewahrt wurden, an der sowohl Kupelwieser als auch Sprenger lehrten. Im selben Jahr, in dem die Restaurierung des Südturms vorläufig abgeschlossen war, wurde in Köln der Grundstein für den Weiterbau des Kölner Doms gelegt, was in Wien eine heftige Debatte um die Fertigstellung des Stephansdoms entfachte. 1844 wurde der Bildhauer Joseph Baumgartner beauftragt, ein Konzept zur Vollendung des Doms zu erstellen; Carl Roesner, ein enger Freund Kupelwiesers, schuf Entwürfe für gotische Altäre.

Leopold Kupelwieser machte den Stephansdom nicht nur zum Motiv eines der Hauptgemälde seines Zyklus, sondern deutete seine Silhouette – zusammen mit jener des Kahlenbergs – in fast jedem Gemälde im Hintergrund an. Nicht nur der Stephansdom, sondern auch der Kahlenberg wurden im 19. Jahrhundert – nicht zuletzt durch die unermüdliche Arbeit „vaterländischer“ Geschichtsschreiber, Maler und Schriftsteller – zu symbolisch aufgeladenen, weithin sichtbaren Monumenten verdichteter Erinnerung.

Pläne für einen ganz anderen Ort der Erinnerung unterbreitete Kupelwieser während seiner Arbeit an den Statthalterei-Fresken dem Präsidium der Akademie: In einem schriftlichen Aufruf regte er den Bau einer Geschichtshalle auf dem Platz zwischen Hofburg und Burgtor an, in der eine Abfolge von Bildern, zu einzelnen Zyklen zusammengefasst, die Geschichte des österreichischen Kaiserreichs darstellen sollte. In seinem Konzept enthielt die Halle auf den größeren Wänden die Geschichtsdarstellungen, an den kleineren Wänden Gemälde interessanter Gegenden des Vaterlandes, Darstellungen aller Natur- und Kunstprodukte der betreffenden Zeit, Naturereignisse und was immer denkwürdig und darstellbar war. Das gemeinschaftliche Aneignen von Wissen über das eigene Land und die anderen Kronländer war eine von vielen Strategien, verbindliche Identitäten zu konstruieren, denn das noch junge österreichische Kaiserreich musste sich gegen erstarkende nationale Tendenzen in allen Teilen des Reiches behaupten. Aufgrund der unterschiedlichen Traditionen, Sprachen und materiellen Kulturen innerhalb des Vielvölkerstaates erschien als einigendes Moment, was zugleich auch von ebendiesen nationalen Strömungen beschworen wurde: die Geschichte. Gerade durch die teilweise sehr unterschiedlichen und mitunter widersprüchlichen Deutungen dieser gemeinsamen Vergangenheit konnte Geschichte im österreichischen Kaiserstaat aber nicht dieselbe suggestive Selbstverständlichkeit entwickeln wie in anderen europäischen Nationalstaaten.

Kupelwieser machte in seinem schriftlichen Entwurf eine in diesem Zusammenhang interessante Aussage: Die Darstellung der Entwicklung des Gesamtstaates als österreichische Monarchie muss durch die richtige Reihenfolge der Ereignisse bezeichnet sein, das allmähliche Anschließen fremder Völker und Reiche; sie bietet einen hohen Reiz, wessen sich keine andere Geschichte erfreut. Hier beginnt sich ein Argument abzuzeichnen, das, im Gegensatz zu nationalistischer Projektion von politischer und kultureller Kohärenz, die Vielfalt als identitätsstiftende Kraft benennt. Deutlicher kommt dieser Gedanke in der Einleitung zu Joseph von Hormayrs „Österreichischem Plutarch“ zum Ausdruck: Er schuf einen Gegenentwurf zu einer statischen, ethnisch einheitlichen nationalen Denkfigur: Die Unterschiede, die Reibungswärme, die an den Grenzflächen entsteht, erzeugen ein dynamisches Gleichgewicht, die Prozesse innerhalb der Gemeinschaft halten diese in ständiger Bewegung und schaffen Identität – eleganter wird es heute kaum ein Grundlagendokument der Europäischen Union formulieren können.

Konzepte für eine Geschichtshalle

Dass Kupelwieser gerade 1849 Konzepte für eine Geschichtshalle entwarf, mag vielleicht auch damit zusammenhängen, dass sein Freskenzyklus – der einzige dieser Art im österreichischen Kaiserreich – zwar in sehr ambitionierter Weise Geschichte zugänglich zu machen versucht, dass dieser Freskenzyklus allerdings zu keiner Zeit öffentlich zugänglich war. Erst 1951, zum 100-Jahr-Jubiläum, fand eine kleine, von Rupert Feuchtmüller kuratierte Ausstellung im Marmorsaal der ehemaligen Niederösterreichischen Statthalterei statt. Wenige Jahre nach Kriegsende, nachdem alle Träume eines Kaiser- wie tausendjährigen Reiches ausgeträumt waren, konnte man Kupelwiesers Geschichtszyklus wieder neue Bedeutung abgewinnen. Zum einen beschränkte sich der Künstler in seinen Schilderungen auf geschichtliche Ereignisse, die unmittelbar mit Wien und dem „Kernland“ Niederösterreich zusammenhängen – eine Einschränkung, die durchaus der damaligen Erfahrung eines „klein gewordenen Österreichs“ entsprach. Zum anderen spielen in Kupelwiesers großer Erzählung Schlachten und Siege nicht die wichtigste Rolle – vielmehr reiht er Belehnungs- und Gerichtsszenen, diplomatische Höhepunkte wie den Wiener Kongress und bedeutende Ereignisse in der Entwicklung der Wissenschaften und Künste aneinander – Identifikationsbereiche, die nach zwei Weltkriegen dem sich gerade als „Kulturnation“ findenden Österreich entgegenkamen.

Und wir, heute? Entdecken gerade den Kahlenberg als attraktives Ausflugsziel wieder, wünschen uns immer noch ein Haus der Geschichte, ohne uns über seinen Standort und seine inhaltliche Ausrichtung einigen zu können, vollenden den Nordturm des Stephansdoms anlässlich eines Papstbesuches mit einer Lichtinstallation – und fürchten uns immer noch vor den Türken.
Sigrid Eyb-Greens Monografie über den Kupelwieser-Zyklus erscheint dieser Tage in der Bibliothek der Provinz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2014)

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