Warum wir die Neinsager brauchen

Kinderzeichnung 'Das Recht nein zu sagen'
Kinderzeichnung 'Das Recht nein zu sagen'(c) BilderBox
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Über die Zeitlosigkeit der Verweigerung, das Recht auf Müßiggang – und was über solche wie den Baron Karl in Erinnerung geblieben ist. Anmerkungen zu einem Archetypus der Wiener Zwischenkriegszeit.

Die Neinsager tun der Gesellschaft gut. Doch sie tun gut daran, dieser in ihrer Betriebsamkeit nicht in die Quere zu kommen. An und für sich zaubert der geübte Tachinierer seinen Zeitgenossen ein Lächeln auf die Lippen, solange er nicht im Weg sitzt oder womöglich an das Mitleid appelliert. So werden die Bedürftigen von den Plätzen vertrieben, während den Bedürfnislosen eine gewisse Bewunderung zukommt. Wohlstandsverweigerung inmitten der Wohlfühlgesellschaft hat eine philosophische Note und macht durch ihre scheinbare Freiwilligkeit aus der Not eine Tugend. Wenn der erfolgreiche Kabarettist Roland Düringer aus seinem Bart einen Zopf macht, das Internet abmeldet und Gemüse pflanzt, gilt dies als mit Sympathie bedachte Widerstandshaltung. Die bürgerlichen Neinsager sind eine willkommene Intervention im Alltag der geilen Konsumgesellschaft.

Mit der Weigerung, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen, hört sich der Spaß jedoch auf. Und obwohl die meisten arbeiten und davon gerade leben können, erfährt derjenige, der nur so viel arbeitet, um gerade davon leben zu können,wenig Anerkennung. Das seit der Antike eingeforderte „Recht auf Müßiggang“ und die moderne Infragestellung des Leistungsdenkens sind zwar gepflegtes Tischgespräch, doch unerfreuliche Kontoauszüge holenmanche Freigeister schnell auf den Boden des Arbeitsmarktservices zurück. „Ich bin dann mal weg“, rief der Entertainer Harpe Kerkeling eines Tages nach einem Hörsturz und der Entfernung seiner Gallenblase, und plant nun anlässlich seines 50. Geburtstags den Ausstieg aus dem Showgeschäft und eine Reise nach Indien. Angesichts solcher Verführungen sitzt der Durchschnittsbürger vor seiner Steuererklärung und ahnt die Beschränktheit seines Bemühens. Die Sehnsucht nach Verweigerung verspricht ihm Freizeit und Freiheit, die Antagonisten von Fremdbestimmung und Pünktlichkeit. Doch keine Utopie besteht ohne ihre mythischen Helden, diese befeuern die Träume. Und hier kommen der Baron Karl und seinesgleichen ins Spiel.

Sobald das Blasmusikorchester beim Pintarich im Böhmischen Prater Pause machte und alle zu den Getränken an die Tische eilten, kam sein Auftritt. Er hielt die Augen geschlossen und hob die Geige. Die vom Tanz erhitzten Damen puderten sich die Nase, klappten die Handtaschen auf und zu, und man wusste, der Baron Karl sucht nach einer Melodie. Mit einer schnellen Bewegung spielte er auf, öffnete die Augen und sang mit rauer Stimme – mein Vater war kein Hausherr und kein Seidenfabrikant. Das gefiel dem Publikum, denn beim Baron Karl bekam alles eine andere Bedeutung, und das unterhielt. Wünschte sich jemand ein bestimmtes Lied, so sagte er: „Zuerst wird gespielt, was ich will, und dann vielleicht, was du willst“ – und das blieb in Erinnerung. Doch was alle sich fragten, war, weshalb der Karl Baron, wie er eigentlich hieß, auf der Straße lebte, sich in Lumpen hüllte und auch sonst nicht auf sich achtete. Vielleicht entstand der Wunsch, nicht mehrzu arbeiten, bereits 1905, nachdem ein Arbeitskollege dem jungen Möbeltischler mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen hatte, dieser das Bewusstsein verlor und danach nicht mehr arbeiten, sondern Musiker werden wollte. Immerhin spielteer Geige, Cello, Harmonika und Flügelhorn. Von nun an blieb er im Haus und stritt mit dem Vater, einem aus Böhmen zugewanderten Polier, der seinen Sohn nicht verstehen konnte und vor die Tür setzte.

Der Erste Weltkrieg erfasste auch den 32-jährigen Karl und brachte ihn an die russische Front, wenige Monate vor Ende des Kriegs desertierte er. Zurück in Wien, kehrte er zunächst in das Elternhaus zurück, denn Mutter und Schwester waren verwitwet und Karl der Mann im Haus, der mit seinem Handwerk für den Unterhalt sorgen konnte. Doch offensichtlich legten sich ihm weitere Stolpersteine in den Weg, an denen die Nachwelt mit ihren Spekulationen über das Warum seiner Lebensart anknüpfen sollte. Der Schriftsteller Peter Henisch dichtete ihm ein gebrochenes Herz und charmanten Fatalismus an, Zeitzeugen berichteten von seiner Freiheitsliebe, während ihn kürzlich die Uraufführung der 1. Wiener Sandler-Operette leibhaftig auferstehen ließ.

Die Historikerin Friederike Krauss verlieh dem liebenswürdigen Kauz regionale Bedeutung und verwies ihn auf seinen Platz im Bezirksmuseum. Und wäre da nicht ein besonderer Klang in den Erzählungen gewesen, ein eigenes Timbre der Freude über seine Präsenz, wäre er dort auch gut aufgehoben. „Wie ich sechs Jahre alt war, hat mich meine Mutter aus dem Haustor hinausrennen lassen. Wir sind immer gerannt über die Favoritenstraßen, und da war eine Sandkiste, und wir haben gewusst, da schlaft der Baron Karl immer, da haben wir dann drauf klopft, und dann ist die eine Seite aufgegangen. Und da war er drinnen, na, das war ein Theater. Hurra, haben wir geschrien, steh auf, wir sind da!“, erzählt eine heute 88-jährige Frau, die sich genau an den Mann erinnert, in dessen Mantel Löffel, Blechgeschirr und Wecker steckten. Die Kinder mochten ihn, und er begleitete ihre Kindheit und unterhielt sie. Der Baron Karl war immer irgendwo da. Er saß anden Ziegelteichen und steckte die Füße ins Wasser, blies am Kamm oder erzählte Geschichten. Brachten ihm die Buben gebratene Krebse, lehnte er ab, da er angeblich seinen Gemüsetag habe. Er war auch dabei, als sie einen toten Buben aus dem Wasser zogen. „So schnell geht das“, sagte er.

Musizierte er auf der Straße, dann verteilte er die im Hut gesammelten Münzen an Kinder, schälte er gelegentlich Kartoffel im Gasthaus „Stoß im Himmel“, gab er die als Lohn erhaltene Kanne mit Suppe an Hungernde ab. Der zeitweise in den Erdhöhlen des Laaer Bergs lebende Baron Karl wusste immer jemanden, der etwas noch dringender benötigte als er selbst. Seine zunehmende Alkoholsucht stillte er an den geleerten Fässern der Wirte, wobei er die Bierreste mit Holzgeist aufgoss, damit sie „besser greifen“, wie er erklärte. Obwohl man den Kindern in Favoriten damals drohte: „Geh dich waschen, sonst wirst wie der Baron“, war er, wie er war, willkommen. „Er ist immer auf den Marktgegangen, und da haben sie ihn schon gerufen, Karl, komm her, sag uns fünf Nummern, das kleine Lotto war das, und die waren alle lieb zu ihm“, erinnert sich eine Favoritnerin heute noch. Die Anekdoten berichten von einem, der sich mitten in der Gesellschaft aufhielt und dieser nützlich war, ohne sich an ihrem geschäftigen Treiben zu beteiligen. „Wenn ich die Leutevon früh bis spät hackeln seh, und draußen rennt die Sonn' davon, denk ich immer an den Hammer am Kopf“, soll er gesagt haben, und man verglich ihn mit Größen wie Diogenes, dem der Legende nach die Sonne im Gesicht lieber war als die Erfüllung seiner materiellen Wünsche.

Der wohltätige Sandler war stadtbekannt, seine Existenz nahm sogar die „Illustrierte Kronenzeitung“ zur Kenntnis, die 1933 eine Zeichnung des Baron Karl in der Reihe „Wiener Originale – Interessante Typen im Straßenbild“ veröffentlichte. Er bewegte sich in der Tradition der Vaganten, die aus allen sozialen Ständen kamen und sich mit dem Vortrag von Trinkliedern etwas Brot, Alkohol und eine Bettstatt verschafften. Die auf den Straßen des Mittelalters sesshaften Menschen, schildert der Soziologe Roland Girtler, fühlten sich werktätigen Leuten gegenüber als durchaus überlegen. Regelmäßige Arbeit wurde ironisiert und das Nichtstun zur Überlebenskunst erklärt. Für die Besitzenden hingegen galt es, den „falschen Bettler“ zu identifizieren. Bereits im Spätmittelalter wurde zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“, aber auch einheimischen und fremden Armen unterschieden. Der Staat sollte die der Faulheit Verdächtigten zur Arbeit zwingen und von den Straßen fernhalten. Es kam zu Armenvisitationen, um Almosenwürdigkeit oder Arbeitsfähigkeit festzustellen. Man richtete Spitäler für Bedürftige sowie Zucht- und Arbeitshäuser ein, wo mit Peitsche, Gebet und Strafarbeit vermeintlich Arbeitsunwillige diszipliniert werden sollten, zudem wurden Bettelverbote erlassen.

Auch der Baron Karl wurde von Zeitgenossen durchaus kritisch betrachtet. Seine „in Bezug auf die Arbeit freiwillig gewählte Bedürfnislosigkeit“ und der „Leichtsinn des geborenen Außenseiters“ sollten nicht zum „Protest gegen die sozialen Zustände unserer Zeit“ stilisiert werden, mahnte das „Kleine Volksblatt“. Doch dafür stand er schon längst.

„Ich such Menschen!“, rief er mitten im Wüten der Menge gegen jüdische Geschäfte am Reumannplatz und leuchtete den umherstehenden Passanten mit einer Laterne ins Gesicht. Doch es wurde auch für ihn dunkel in dieser Zeit, und obwohl er den Verhältnissen Widerstand und keinerlei Ernst entgegenbrachte, konnte er sich der Verfolgung entziehen. Man stellte ihn zwar unter Arrest, doch er überlebte die Kriegsjahre in Wien. In den ersten Tagen nach Kriegsende spielte er wieder auf. Schwer gezeichnet und gealtert, unverwüstlich auf seine Weise, war er zur Stelle. Er geigte den Heimkehrern am Bahnhof ein Ständchen, man sah ihn mit Kindern tanzen, mit Trümmerfrauen Schutt beseitigen, in den Gasthäusern Schmäh führen. Als er drei Jahre später von einem russischen Lastwagen zu Tode gefahren wurde, stellten sich Tausende zu seinem Begräbnis ein.

Als der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk den unermüdlichen Stadtprediger Wickerl Weinberger, bekannt als Waluliso, posthum würdigte, meinte er: „Er war ein Botschafter des Guten und Schönen, aber natürlich war er verrückt. Nur ein Verrückter kann so leben.“ Und so werden die Vernünftigen zu Narren gemacht, damit keiner auf die Idee kommt, sie ernst zu nehmen. Der Baron Karl hat so etwas vorausgeahnt. „I bin, aber das verstehts ihr ned, ein armer Reicher“, sagte er in schwerer Zeit. Und das muss ihm erst einmal wer nachmachen. ■

1965 in Wien geboren. Historikerin, Politologin.Dissertierte über den „Umgang der österreichischen Justiz mit NS-Gewalttätern“. Zuletzt wissenschaftliche Koordinatorin der Kommission Wilhelminenberg. Arbeitet im Bereich politische Erwachsenenbildung und als freie Autorin.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2014)

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