Wie Brüssel nach Böhmen kam

An der Grenze: jede Menge Tafeln mit und ohne Logos der Europäischen Union. Ein paar Kilometer dahinter: das tschechische Staré Město, das mittlerweile auch die Touristiker entdeckt haben. Über alte Österreicher, junge Tschechen und EU-geförderte Wanderwege: eine österreichisch-tschechische Grenzerfahrung.

Der Holzzaun am Ortsende von Klein-Taxen ist weg, die Straße asphaltiert und auch für den Autoverkehr passierbar. Vor 1989 führte man die Besucher hierher, wenn man ihnen einen Eindruck vom Ende der Welt, vom Schrecken des Eisernen Vorhangs und des Regimes, das dessen Errichtung zu verantworten hatte, vermitteln wollte. Mit Stacheldrahtverhau und Wachtürmen konnte man jedoch nicht dienen, seit das tschechoslowakische Regime diese in den 1970er-Jahren weg von der Grenze, ein paar Kilometer hinein ins Landesinnere verlegt hatte. Das „Ende der Welt“ bestand aus Wiesen und Feldern, die sich nur in ihrer Größe und den nicht erkennbaren Grundstückgrenzen vom eigenen unterschieden.

Anstelle des Zauns begrüßen jetzt jede Menge an Tafeln die Besucher, deutsch, tschechisch, englisch, mit und ohne Logos der Europäischen Union, die Segnungen der offenen Grenze im allgemeinen und des nunmehr möglichen Reit-, Radfahr- und Langlauftourismus im Besonderen preisend. Der kleine, vom tschechischen Kommunistischen Jugendverband produzierte Lenin-Sticker ist weggekratzt. Stattdessen hängt jetzt dort ein Porträt des verstorbenen tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel, davor eine Vase mit ein paar verwelkten Blumen. Die Aufnahme zeigt den Helden der „Samtenen Revolution“ in fast jugendlicher Frische. Diese ist ebenso in der Erinnerung verblasst wie die an die ersten Fahrten in ein „Drüben“, das mit einer Mischung aus Exotik und Heimeligkeit aufwartete, mit braunkohlegeschwängerter Luft und Werktätigen, die mit ihren Blaumänteln in verrauchten Dorfwirtshäusern saßen.

Erst ein paar Kilometer weiter steht eine Kaserne im Stil der Plattenbauten aus den frühen 1980er-Jahren mit Wellblechdachund schweren Eisentoren. Zur Zeit ihrer Errichtung beherbergte sie die zur Bewachung der Systemgrenze abgestellten Jungmänner, die mit einem kaserneneigenen Kino bei Laune gehalten werden sollten. Seit auch die Grenzpolizei abgezogen ist, dient die Kaserne als Abstellplatz für riesige Landmaschinen. Die erste Ortschaft ist ein paar Kilometer entfernt. Am Ortsrand ein klassizistisches Schloss. Der dahinter liegende Meierhof diente nach 1945 als Nukleus für das megalomanische Staatsgut, der tschechischen Ausgabe der Kolchose, das die Regionen an der Grenze dominierte. Im kurzen Sommer der Freiheit, der auf die Grenzöffnung folgte, wurde im zum Veranstaltungssaal umfunktionierten Schloss die neue Partnerschaft zwischen den Gemeinden Kautzen im Waldviertel und Staré Město (Altstadt) über die Grenze mit reichlich Bier, Wodka und Becherovká begossen. Der ganze Ort lebte mit und von der Aufzucht Tausender Schweine, „eigentlich eine Fabrik zur Erzeugung von Schweinefleisch“, wie die vom sozialistischen Aufbau begeisterte Ortschronistin in den 1970er-Jahren anmerkte.

Die Ortschaft war wie alle anderen auch hier an der Grenze von (Sudeten-)Deutschen und deutschen Juden bewohnt. Die Juden wurden von den Deutschen 1938 vertrieben, die Deutschen mussten 1945 gehen und wurden durch tschechische „Neusiedler“ ersetzt, mehrere Dörfer an der Grenze geschleift. Die Wende verlief hier unerwartet, schnell und unspektakulär. In Altstadt versammelte der einzige Dissident des Ortes, der seit seinem Rausschmiss als Lehrer in der Schweinefarm arbeitete, ein paar seiner Kollegen und verlangte vor dem Gemeindeamt die Anbringung von Plakaten des Bürgerforums. Der kommunistische Bürgermeister kam dem Wunsch nach und blieb danach noch mehr als 20 Jahre lang in Amt. Als 1991 die vertriebenen Alt-Altstädter ihr Treffen zum ersten Mal in ihrer früheren Heimatgemeinde abhielten, sorgte er für die Bereitstellung der Räumlichkeiten, als Dolmetscher fungierte der Exdissident. Der Sowjetstern verschwand von der Schulfassade, seine Umrisse erkennt man heute noch.

Es dauerte nicht lange, bis der entvölkerte Sperrgürtel Begehrlichkeiten aller Art weckte. Zuerst kam ein holländischer Großinvestor, der in undurchsichtigen Geschäften riesige Mengen an Land erwarb und die ehemalige Bauernortschaft Reichers, die nunmehr von allen Seiten von Wald umgeben war, als eine Art mitteleuropäisches Las Vegas mit Spielcasinos, Hubschrauberlandeplätzen wieder zum Leben erwecken wollte. Dies wäre fast gelungen, hätte nicht gleichzeitig eine Gruppe von Prager Intellektuellen Gefallen am Landstrich gefunden, der ob seiner Verlassenheit, der romantischen Anmutung und des rauen Klimas zum „böhmischen Kanada“ ausgerufen worden war. Als die Prager die Dörfer im ehemaligen Sperrgebiet zu suchen begannen, fanden sie stattdessen eine durch die Abgeschiedenheit konservierte Landschaft mit jeder Menge geschützter Tierarten vor, die bald darauf zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. Man organisierte eine Kampagne, drehte Videofilme, sogar eine Kerzendemonstration in Prag. Der Holländer, der im postkommunistischen Morast nicht mit so viel Widerstand gerechnet hatte, gab entnervt auf und verkaufte das Land an einen Budweiser Unternehmer, der in den wilden tschechischen 1990er-Jahren zu viel Geld gekommen war. Und wieder regte sich Unmut, als er damit begann, seinen neuen Besitz, der sich über den Kataster dreier Dörfer erstreckt, großflächig einzuzäunen und auf Schildern einen privaten Nationalpark auszurufen.

Meine Kontaktaufnahme mit ihm gestaltete sich schwierig, hatte er mich doch bald in die Kategorie „lästiger Österreicher“ eingeordnet. Umso freundlicher wurde unsere Begegnung. Der Mittdreißiger servierte mir in seinem karg eingerichteten Blockhaus Limonade und Bier. Er wolle hier einfach die Natur genießen und Ruhe für sich und seine Bisons haben, die er auf den endlos scheinenden, prärieartigen Weiden züchtet. Ich versuchte ihm zu erklären, was die Warnschilder und Zäune für die wenigen Österreicher, die den alten Verbindungsweg durch das ehemalige Dorf wieder zu benutzen begonnen hatten, bedeuten. Er erzählte von den Plänen, zeigte mir die revitalisierte Dorfallee und brachte mich im Jeep aus der nun privatisierten Sperrzone ins nächstgelegene Dorf. Wie seine sozialistischen Vorgänger möchte er die Gegend nicht nur besitzen, sondern auch benennen. Der neue Name, „Walden“, den er in die Kataster eintragen lassen will, entstammt dem Erlebnisroman vonHenry David Thoreau; der hat im 19. Jahrhundert in den USA zwei Jahre lang in einer selbst gebauten Blockhütte verbracht.

Auf der anderen Seite der Grenzstraße hat sich ein Investor aus Österreich eingekauft und frönt dort, wo einst vier Weiler standen, hinter meterhohen Zäunen seiner Jagdleidenschaft. Dazwischen liegen die Wiesen des ehemaligen Staatsguts, das nach der Wende praktischerweise gleich vom bisherigen Verwalter privatisiert wurde und im großen Stil weiter betrieben wird, nachdem die geplante Aufteilung an die früheren Eigentümer an fehlenden Interessenten und Maschinen gescheitert ist. Auch hier weiden Bisons. Man streitet sich um noch freien Grund und Boden und bleibt doch unter sich. Etwas weiter nördlich hat ein Belgier einen verfallenen Gutshof erstanden und zum Hotel umgebaut. Die Gäste kommen im Offroad-Wagen oder fliegen mit Hubschraubern ein. Vor dem Restaurant gibt es in einer Hütte Bier und Grillwürstel. Die Stimmung unter den Einheimischen den neuen Herren über Grund und Boden gegenüber ist ambivalent, reicht von Zustimmung aufgrund der Revitalisierung und Schaffung von Arbeitsplätzen bis zur Empörung über die „Feudalherren“ und neuen „Grenzhüter“ mit ihren Drahtzäunen. Im Dorfwirtshaus herrscht seit der Liquidierung des Staatsgutes meist gähnende Leere. Statt den Werktätigen tummelt sich jetzt ein buntes Gemisch aus Touristen und Vertriebenen in der Region. Dazu kommen Künstler, Alternative und Aussteiger, die eine eigene Infrastruktur an Galerien und Lokalen aufgebaut haben. Sie sind es auch, die oft einen zähen Missionierungsfeldzug gegen die nach 1945 hier heimisch Gewordenen führen, welche ihrerseits aus Gewohnheit und Protest gegen das Neue meist noch immer Kommunisten wählen. Die entvölkerten Dörfer gleich hinter dem Stacheldraht waren noch vor der Wende von Pragern und Brünnern entdeckt worden, die die spottbilligen Häuser kauften und meist stilgerecht renovierten. Einer hat eine alte Dorfkapelle zum Ferienhaus umgestaltet, mit dem Rauchfang neben dem Turm.

Nach der Wende kamen viele tschechische 68er-Emigranten aus Österreich dazu. Jiří Boček kam 1969, ohne ein Wort Deutsch zu können, nach Wien und baute dort einen Metallbaubetrieb auf. Nach 1989 kaufte er sich in einem Ort ein, der nur mehr aus wenigen Häusern bestand und wo der Dorfplatz als Schrottablageplatz für das Staatsgut diente. Über Jahre hinweg fuhr er an den Wochenenden hinaus, um nicht nur sein Anwesen, sondern auch den Dorfplatz und die Kapelle neu aufzubauen und weihen zu lassen. „Als mich ein 1945 Vertriebener dann fragte, ob er hier ein Zelt aufstellen darf, meinte ich, dass er da doch zu Hause ist.“

Der Aussöhnung mit der Geschichte haben sich auch die Prager Studenten verschrieben. Gemeinsam mit Mönchen des nahen Klosters Kostelni vydři laden sie jedes Jahr zur Gedenkwallfahrt in die „verschwundenen Dörfer“ ein. Die Wanderung beginnt an jener Stelle, wo 1945 die Menschen über die Grenze getrieben wurden. Dort, wo in Romau einst die Kapelle stand, errichteten sie ein Holzkreuz und legten mit Steinen den Grundriss nach. Junge Tschechen und alte Österreicher feiern dort die Messe, im Anschluss gibt es Tee und böhmische Kolatschen. Am Baum hängt eine Plastikdose mit einem kleinen Notizblock, in dem Besucher aus Österreich, Deutsche und Tschechen nach Erklärungen für das Geschehene suchen. Vor ein paar Jahren wurde ich von den Grenzgemeinden mit der Errichtung eines historischen Themenweges beauftragt. In einer Computeranimation erlebt Romau eine virtuelle Wiedergeburt. Am Eröffnungstag zeichnete ein alter Mann mit Tränen in den Augen immer wieder kleine Kreuzzeichen auf den Videoschirm. Mittlerweile erleben die verschwundenen Dörfer einen regelrechten Gedächtnisboom, der sich in der Aufstellung immer neuer Tafeln manifestiert, die um Aufmerksamkeit heischen. Der Handel mit alten Ansichtskarten ist zum lukrativen Geschäft geworden.

Vergangenheitsbewältigung der etwas anderen Art betreibt der Mittdreißiger Jiři Duchoň. Der Budweiser mietete ein von Bunkeranlagen durchzogenes Waldstück und baute es mit spanischen Reitern und Stacheldrahtverhauen an unzähligen Wochenenden zum privaten „Festungsareal“ um. Einmal im Jahr marschieren in Uniformen von SS, Wehrmacht und tschechoslowakischer Armee aus dem ganzen Land kommende Hobbysoldaten auf, um mit Platzpatronen aus Maschinengewehren und Radpanzern Schlachten nachzustellen, die es nie gegeben hat. Das Ganze ist mit Bierausschank und Grillwürstel eine Mischung aus Hobbymobilmachung und Volksfest. Hunderte Zuseher verfolgen das bizarre Schauspiel, an dessen Ende stets der Sieg der tschechoslowakischen Armee und das Abspielen der Hymne steht. Den Rest des Jahres fährt man in den SS- und Wehrmachtsgewändern durch die Gegend.

Mittlerweile hat Duchoň sein Betätigungsfeld auch auf den Kalten Krieg ausgedehnt und ein Stück Eisernen Vorhangs nachgebaut. Damit will er ebenso an jene erinnern, die beim versuchten Übertritt zu Tode kamen, wie an die tapferen Grenzhüter. In Internetforen erinnern sich diese indes weniger an Todesschüsse als an die blühende Natur in den zerstörten Dörfern und an alkoholschwangere Ausbruchsversuche aus dem düsteren Grenzalltag in den Einheitswirtshäusern der Umgebung.

Erst in der jüngeren Vergangenheit kamen die Touristiker. Mittlerweile ist die Gegend in alle Richtungen von EU-finanzierten Grasel-Wanderwegen durchzogen, und meinem fünfjährigen Sohn ist das Sujet des Räuberhauptmanns bereits bekannter als die Biene Maja. Doch so sehr man sich auch um den touristischen Austausch mit dem nahen Österreich bemüht, er will und will nicht gelingen. Die Chance, in „Böhmisch Kanada“ freakige Amerikaner oder holländische Pensionisten anzutreffen ist allemal größer, als österreichischen Touristen zu begegnen.

Im früheren Sperrgürtel, auf Boden des ehemaligen Dorfes Münichschlag, stehen inmitten eines perfekt gepflegten Rasens luxuriöse Neubauten. Die Namen der Häuser von „Brüssel“ bis „Linz“ sollen an die potenziellen Bewohner erinnern, wie mir der smarte und nicht unfreundliche Manager in einem der mit allen Finessen ausgestatteten Häuser erklärt. Gedacht ist an ein zahlungskräftiges Publikum, das das Naturparadies „Böhmisch Kanada“ besuchen will, ohne sich um Unannehmlichkeiten aller Art kümmern zu müssen. Ein paar Kilometer weiter findet sich das Waldhotel. 1991 erwarb die nach Wien emigrierte Marcela Hauser das alte Zollhaus aus der Zwischenkriegszeit, das nach 1951 als Grenzkaserne mit Hundezwinger diente. Gemeinsam mit ihrem Sohn Marcus baute sie es zur ersten Luxusherberge in der Region um. Vor dem Hotel steht der „Stein der Republik“, ein mächtiger Granitblock, der die Umrisse der ersten Tschechoslowakischen Republik hat. Einmal im Jahr versammeln sich hier die Mitglieder des „Klubs des tschechoslowakischen Grenzlandes“, eine Gruppe älterer Männer, denen es um die Verteidigung des „Sudetenlandes“ gegen die etwa gleich alten deutschen Vertriebenen geht. Ein Foto zeigt sie vor dem „Stein der Republik“. Im Hintergrund ist der über dem Hoteleingang angebrachte Doppeladler zu erkennen, davor das Grüppchen mit roten Fahnen und der Aufschrift: „Nur wenn unser Grenzland tschechisch bleibt, bleibt es auch die ganze Republik.“ ■

Geboren 1970 in Waidhofen/Thaya. Aufgewachsen in Kautzen. Studium der Osteuropa-Geschichte. Historiker und Publizist. Zuletzt in der Bibliothek der Provinz: „So nah, so fern. Menschen im Waldviertel und in Südböhmen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2014)

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