Von Tod und Plastikblumen

In der Serie „Expedition Europa“: Slawjansk, Ukraine. Wieder. Noch?

In jener Nacht erleuchten Feuer die ostukrainische Ebene, in geraden Linien gelegte Feuer zum Verbrennen von Gras. Ich fahre in das Verwaltungsgebiet Donezk ein, in den ukrainisch kontrollierten Teil. In Krasnoarmejsk, 50 Kilometer vor der Front, ist die Samstagnacht finster. „Bald kannst du die dumpfen Einschläge aus Donezk hören“, kündigt einer an. Der Sonntag beginnt aber ruhig. Im Autobus kriege ich eine Vorstellung nicht aus dem Kopf: die TV-Bilder verkohlter Leichen in einem ausgebombten Autobus und die perfekt geschminkten Studentinnen um mich herum.

Ich komme in Slawjansk an. Die Kurstadt wurde 2014 von Separatisten unter dem russischen Offizier „Strelkow“ besetzt. Es folgte Krieg, im Juli 2014 zog die „Volkswehr“ nach Donezk ab. Es ist der erste Sonntag mit Frühlingsgefühlen, Spaziergänger. Die wenigen Einschläge im Zentrum sind repariert. Ukrainische Kämpfer streunen herum, die meisten stumpf betrunken. Kaum Abzeichen derregulären Armee, willkürliche Uniformen. Nationalgardisten, Freiwillige, Söldner? Niemand in Slawjansk kann mir den Unterschied erklären. Vor der zentralen Leninstatue macht der blutjunge Vizebürgermeister auf partizipative Demokratie: „Ich bin auf eurer Seite.“ Links und rechts hält je ein Mädel eine Ukrainefahne, im Publikum demonstrieren zwei weitere Mädels für den Vize. Er stellt eine „Expertenkommission“ zusammen, aus Omas und Teenagern. Ein Zivilist, der eigentlich gerade sein Mädchen küsst, stänkert mich an.

Wie man Veteranen produziert

Ein Taxi bringt mich in den dörflichen Außenbezirk, in dem vergangenen Frühling gekämpft wurde. An den Bäumen und Masten von Semjonowka zeigen Plastikblumensträuße Todesorte an. Am stärksten zerstört ist die Gegend um das Café, in dem die Separatisten von Kommandant „Motorola“ stationiert waren. Die Psychiatrie auf der Anhöhe ist eine Ruine. „In der Abteilung Nummer neun“, erzählt der Taxler, „wurde ich als Afghanistan-Veteran gratis behandelt.“ Nun also werden, denke ich für mich, neue Veteranen produziert.

Im Kurort wird kein Heilschlamm mehr aus den „grünen Seen“ geholt. Früher pflegten die Slawjansker hier auszugehen, doch nun sind die Sanatorien mit Soldaten belegt, und weil das praktisch ist, üben sie gleich nebenan das Schießen. Wenige reife Damen im Sowjetpelz warten auf den Stadtbus. Es fehlen nur wenige Meter, und ein besoffener Krieger würde ihnen auf die Füße pinkeln. Im Café „Perle“ rezitiert die Barfrau unaufgefordert das ukrainische Nationalpoem „Kobsar“. Der Barmann erklärt, dass dieser Sonntag der letzte Tag der „Masleniza“ sei: „Da haben sich die Männer früher verprügelt, hinterher haben sie sich umarmt, und so gingen sie frei von Aggressionen in die Fastenzeit.“ Ich sage gerührt: „Was für ein schöner Brauch!“ Da ahne ich noch nicht, wie viele Schlägereien mir Slawjansker Burschen im Lauf der Nacht noch antragen werden.

Ansonsten höre ich mir dutzendfach Meinungen an. Einige sympathisieren mit den Separatisten, „da war nicht so eine Gesetzlosigkeit wie jetzt“. Andere behaupten das Gegenteil. Die meisten äußern sich sowohl gegen die Separatisten als auch gegen die ukrainische Armee. Einer, der die Separatisten kritisiert, erzählt dann doch mit Stolz, welche Bewunderung er auf der Krim für seine Herkunft aus der „Heldenstadt“ erfuhr. „Alles steht still, weil niemand weiß, was kommt. Wird das Ukraine, kommt die Volkswehr wieder, wird das Russland?“

Es dunkelt, als ich Slawjansk am Montag verlasse. Der Tafelberg hinter Semjonowka, von der Kreideförderung in ein edles Weiß gekleidet, schimmert berückend im Abendrot. Ein letzter Satz mit Botschaft fällt mir nicht ein. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2015)

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