Bemüh dich. Aber.

„Ich bin eine freie Frau.“ Über die Freiheit des ersten Satzes in der Autobiografie der französischen Journalistin und Feministin Françoise Giroud.

Aber. Wir wissen immer schon zu viel, wenn wir über den Vornamen einer Person die Information „weiblich“ vermittelt bekommen haben. In fast allen Kulturen gibt es dieses stete und immer einschränkende Interesse daran, wie Frauen und alle anderen, nachgereihten Geschlechter leben sollen. Dieses Interesse erfüllt den Auftrag, die unrekonstruierten Mythen über die Geschlechter weiterzuschreiben. Dieser Auftrag kommt aus der Grundkonstruktion der Kulturen und ist so immer selbstverständlich mitgedacht. Während des Gedacht-Werdens verwandelt sich diese basale Vorstellung dann in die jeweils individuellen Urteile überdie Trägerin des Vornamens und entzieht während dieses rückbezüglichen Denkens über die als weiblich erkannte Person dieser Person ihre Individualität.

Dieses Gedacht-Werden des Geschlechts ist so tief in den jeweiligen Kulturen angelegt, dass es zunächst gar kein anderes Denken gibt. Erst das jeweilige Durcharbeiten der Zusammenhänge ermöglicht, für den jeweiligen Einzelfall das Urteil „Weiblichkeit“ überhaupt zu erkennen. Denn. Es ist Urteilsspruch, wie Geschlecht in unseren postchristlichen Kulturen gedacht werden muss, und alle Bestrebung, aus diesem Geprägt-Sein herauszukommen, hat gerade dahin geführt, dieses Urteil erkennen zu können. Und das erst, nachdem der jeweilige Einzelfall durchgearbeitet wurde.

Durcharbeiten. Das heißt vor allem, das eigene Denken in den Auftragsmythen zum vorliegenden Fall aufzufinden. Es gilt, Übertragungen und Gegenübertragungen aufzuspüren, um so den Text für sich lesen zu können. Das ist eine Lesart, wie sie der hegemoniale Kanon in jahrtausendelanger Wirkungsmacht für sich in vollkommener Selbstverständlichkeit herstellen konnte. Ein Text, der als hegemonialer durch den Vornamen des Autors und der Zugehörigkeit zu einer Textsorte wie etwa Autobiografie erkennbar ist. Ein solcher Text liegt durch die Instanz des Hegemonialen schon von uns getrennt vor. Und. In der Logik der westlichen Philosophie, in der nicht Vergleichbares nicht verglichen werden darf, kann dann nur eine Person identifikatorisch lesen, die sich vergleichbar nennen darf. Verglichen wurde hierwieder über Jahrtausende das Geschlecht. Das geschlossene System unserer Kultur wird offenkundig. Alle Mittel werden geschlechterpolitisch wirksam. Darin wieder ist der Ausschluss über die Vornamen so basal, dass er nie bewusst werden muss. Was das aber nun bedeutet, wenn eine Person sich der kulturstiftenden Bedeutung dieser Politik bewusst wird, das ist in Françoise Girouds Autobiografie (Gallimard) zu lesen.


Die Schreiberin gibt sich die höchsten Attribute des postchristlich Persönlichen. „Ich bin eine freie Frau.“ Sie ist frei, und sie kann das Glück ertragen. Sie ist ein Individuum. Sofort mit den ersten Sätzen nimmt Françoise Giroudsich damit jene Instanz der Autorschaft über den Text, wie das jeder hegemoniale Text für sich beanspruchen würde. Aber. Sie deklariert sich als „freie Frau“. Der Grundkonflikt ist offenkundig geworden. Sie muss zur Kenntnis nehmen, eineFrau zu sein. Und weil es ein analytisches Schreiben ist, das diesen Text trägt, wird folgerichtig die Erzählung zum Grundkonflikt sofort vorgelegt. Ein hübscher kleiner Bub, der die Schreiberin eigentlich stört, führt zur Erinnerung an den schönen Vater und an sich selbst als Mädchen, das vom Vater zu Boden geworfen wird, weil dieser schöne und interessante Vater einen Sohn hatte haben wollen.

Das erste Geschlecht einer Person wird von den Eltern fabriziert. Françoise Giroud bekommt von Anfang an den Mangel als ihren Gründungsmythos ihres Tochter-Seins aufgetragen. Und. Es wird nie genug sein. Nicht im Tun. Nicht im Versuchen. Nicht im Bemühen. Und schon gar nicht im Aussehen. Immer wird der Vater das ferne, unerreichbare Idol bleiben.

Die Frage ist zu stellen, was eine Frau von sich weiß, und wie weit kann dieses Wissen sie außerhalb von sich bringen, um den Blick auf sich selbst zu formulieren. Kann sie,auf sich selbst schauend, es ertragen, eine Frau zu sein.

Und. Im Kampf um ihr Bewusstsein angesichts der Möglichkeit, dass dieser Text von anderen gelesen werden könnte. In diesem Kampf verlässt der Text die Schreiberin dann ja auch und nimmt sich jene Qualität von Instanz, die Texten des Patriarchalen so selbstverständlich ist. In diesem Text ist diese Instanz von der Schreiberin erobert, indem sie sich selbst sprachlich erschafft. Eine neue Eigenständigkeit von Bewusstsein und Geschlecht wird geschaffen. Das Geschlecht erhebt sich in diesem Text zur philosophischen Kategorie.


In dem Augenblick, in dem Françoise Giroud nicht mehr bereit ist, eben das zu tun. Und das drückt sie schon mit den ersten beiden Sätzen aus. „Ich bin eine freie Frau. Eine glückliche Frau war ich auch...“ Genau in diesem Augenblick muss sie die Frage nach dem Subjekt an sich selbst stellen. Die bis dahin zugänglichen und anerkannten philosophischen Quellen können ihre Existenz als Frau ja nicht einmal wahrnehmen. Geschweige denn einarbeiten.

Wieder begründet die Konstruktion der Philosophie die Geschlechterhegemonie.Denn. Wenn etwas nicht beschrieben werden kann, dann gibt es dasjenige nicht. Wenn also etwas unbeschreibbar gemacht wurde, wie das mit allen Geschlechternder Fall war, die nicht in das Patriarchalehegemonial eingerechnet werden können, dann gibt es keine Beschreibung. Dann gibt es diese Geschlechter nicht.

Im Jahr 1960. Da war die Emanzipation vom Geschlecht noch sehr das unbeschriebene Unbeschreibbare. Im Jahr 1960, Françoise Giroud griff zur Textform der Lebensbeichte. Lebensbilanzen. Die werden mithilfe kleiner Episoden gerechnet. Ein selbstironischer Ton lässt die Autorin auch auf dieser Ebeneaus dem Text heraustreten. Sie stellt sich so der Leserin an die Seite, und frau schaut gemeinsam mit ihr auf die Zeichen. Das Leben selbst wird zum Instrument der Deutung.


Das war in der Zweiten Frauenbewegung so. Es gab einen geschichtlichen Augenblick, in dem das Wissen, eine Frau zu sein, eine Möglichkeit war, andere Frauen zu verstehen. Dieses Verständnis war sehr vage. Aber es wardiese Ungenauigkeit im Ahnen voneinander, das die Grundlage für politisch-solidarisches Handeln bildete. Wie ein Klassenbewusstsein, das sich ja auch nur über vage Kriterien dann in einer Person konkretisieren kann, war in den Sechziger- und Siebzigerjahren das Frau-Sein Grundlage eines Geschlechterbewusstseins, aus dem die Vorstellung einer geschlechtergerechten und damit unpatriarchalen Gesellschaft gedacht wurde.

Diese soziale Revolution wurde durch dieVerwirtschaftlichung verhindert. Die kapitalistische Wirtschaft dringt ja seit Anbeginn auf Außerstaatlichkeit. Damit ist sie auch außerhalb der Akademie, die in Spannung zum Staat denken und lehren soll. In der Deregulierung der Wirtschaft seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts dringt die kapitalistische Außerstaatlichkeit in die Gesellschaft und in jede Person einzeln ein. Die Institutionen und damit auch das Subjekt werden entmachtet ermächtigt. Die einzelne Person und nicht der Staat wird zum Teilaspekt einer Zentralisierung der Welt. Jedoch. Die Hierarchisierung des Patriarchats bleibt mitgedacht kulturelle Grundlage. Und. Für die kapitalistische Penetration der Institutionen und des Subjekts werden die symbolischen Zeichen des Patriarchalen verwendet. Wie sollte das Postpatriarchale sonst auch verstanden werden. Das Patriarchale ist damit zwar in seiner Eindeutigkeit zerstört. Aber. Es kommt vielgestalt in den Anordnungen der Macht in Zentrale zu Peripherie wieder. Es gibt ja keine andere Sprache.

Für Françoise Giroud ist das Patriarchale noch klar repräsentiert. Der Vater, dessen Todsie zum Auftrag nimmt, ihrer Mutter den Familienerhalter zu ersetzen. Der Vater, dessen Politik des Widerspruchs und Widerstands sie zum Vorbild nimmt und nie zugehörig sein will. Die Schönheit der Mutter und der Schwester, die sie nicht mitbekommen hat, die sie auch gar nicht will, die aber Weiblichkeit konstruiert. Sie will der Vernünftige in der Familie werden, der die Probleme der Außenwelt bewältigen kann. Und das gelingt ja auch. Irgendwann kann Françoise für die Mutter aufkommen. Aber es ist nichts wert. Als Mann erfüllte sie ihre Verantwortungen. Als Frau wird es nicht zur Kenntnis genommen. Wie ja fast alles an ihr deshalb nicht zur Kenntnis genommen wird. Die Nichtexistenz der Frau wird für die nicht so hübsche junge Frau in diesem Nicht-zur-Kenntnis-Genommen ausgeübt. Von ihrem Standpunkt aus haben dann auch nur die hübschen und reichen Töchter ein Leben.

Françoise Giroud ist nur im Kampf lebendig, und der Kampf geht darum, diesen Vater zu ersetzen. Dieser Vater zu werden. 1960 ist dieser Kampf zu Ende. Die Freiheit, die dieser Kampf bringen sollte, diese Freiheit ist nicht erreicht. Sie wird gerettet. Der Selbstmord misslingt. Die Freiheit des ersten Satzes des Texts. Diese Freiheit bezieht sich wohl auf die Freiheit von Verpflichtetheit. Niemand muss erhalten werden. Niemand braucht Geld. Niemand will ein Gespräch.


Während das Glück, das sich auch auf ihren Körper bezieht und damit auf ihre Weiblichkeit, zurückgegeben werden musste, ist ihr diese Freiheit geblieben. Die Rolle des Vaters fällt weg, und es bleibt eine Leere zurück. DieGesellschaft hat es nicht anerkannt und sie zum Mann ernannt. Weder die Versorgung der Mutter noch ihr Selbsterhalt oder die Gründung eines führenden Magazins. Am Ende ist sie eine verlassene Frau wie jede andere auch, und ihr Körper erinnert sie daran. An den Maßstäben des Patriarchal-Konventionellen gemessen, ist nichts geblieben.

Die Macht dieses Konventionellen lässt sich am Erstaunen messen, wie Françoise Giroud gegen Ende des Texts den Vergleich mit der konventionellen Frau schreibt. Und. An dieser Stelle ist der Sieg der Autorin vollendet. Es ging um Sieg, weil es ums Überlebenging. Und der Sieg. Der ist vollständig, weil das Überleben in Würde stattfinden wird. Die Würde wird sich für Françoise Giroud daraus herstellen, dass die Würde ihr als Person direkt zugedacht werden muss und dass sie ihre Lebensberechtigung über keinen Mann ableiten muss. Sie wird ihr Leben genießen, weil sie weiß, dass sie es ist, die am Leben ist, und nicht sie, die einen Partner denken muss, um sich wertvoll zu fühlen. Das bleibt elegisch. Das muss elegisch bleiben. Eine Kultur. Eine Gesellschaft, die Personen über ihren Körper beurteilt, hat sich für alles beherrschende Ungerechtigkeit entschieden. Diese Erkenntnis ist einmal gefasst,nie wieder wegzudenken. Aber. Die Trauer über diesen Zustand. Weibliche Melancholie hat keine Möglichkeit, in Narzissmen zu verfallen. Dazu müsste das weibliche Subjekt alssolches existiert haben. Weibliche Melancholie führt ins Politische und Pragmatische. Dieser Text ist ein Ergebnis davon. Und. Der Text gibt Kunde davon, in welch strahlender Schönheit ein solches Leben und der Bericht davon Form annehmen kann und in welcher Pracht der Geistigkeit wir leben könnten. Im Leben finden wir diese Schönheit und ihre Pracht noch immer nur selten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2015)

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