Wie lange schweigt der Mensch?

Genozid – Virizid – Femizid – Genderzid. Über Völkermord, die Stille, die Schande, die Sprache. Samt einem Besuch in Armeniens Hauptstadt Jerewan.

Die Marshall-Bargrahmyan-Straße ist mit Barrikaden aus Mistkübeln abgesperrt. Jerewan, im Hochsommer 2015. Hinter den Barrikaden Polizeiautos, alles mitten auf einer Jerewaner Hauptverkehrsader, an der der Präsidentenpalast, der Verfassungsgerichtshof, die amerikanische Universität, das Parlament stehen. Es ist Sonntagabend, ein Grüppchen Demonstranten schart sich um einen Sänger, es ist das Ende eines wochenlangen Protestes gegen Stromerhöhungen, am nächsten Tag wird die Polizei die verbliebene Gruppe des Protests auflösen, die Mistkübel an ihren Platz zurückstellen; die Demonstration hat ihren Zweck erfüllt – die Strompreiserhöhung wird ausgesetzt.

Es geht, übersetzt mir mein Begleiter, im Lied um die immer wiederkehrenden Themen in Armenien – um den Verlust der Heimat, die weit über die Grenze des heutigen Armenien das einstige Großarmenien zwischen Byzanz und Persien umfasste. Es geht um das verlorene Land, um die verlorene Größe und Bedeutung, um die unzugängliche Vergangenheit – auch in den Liedern des Protests gegen die Strompreiserhöhung des Jahres 2015.

Einen Tag später beginnt in Jerewan die 12. Konferenz des internationalen Genozid-Forschungsnetzwerkes. Jerewan als Gastgeber der Konferenz ist prägend. Der Genozid des Jahres 1915 ist hier allgegenwärtig, man liest überall in der Stadt: Remember and Demand. Die Banner über den Straßen mit Forderung und Erinnerung sind umrahmt von jener violetten Vergissmeinnicht-Blüte mit gelben Blütenblättern, die zum Symbol für das Gedenken an den Genozid gewählt wurde. Der politische Rahmen, die Eröffnung der Konferenz durch den Staatspräsidenten Serge Sargysan, die Forderung nach politischer und juristischer Anerkennung durch die Türkei, die Berechnungen von Reparationszahlungen, die Geschichten des Leids und des Verlusts, die sich durch jede armenische Biografie ziehen, sind dominant. Warum darf ich nicht mehr in den – jetzt in der Türkei gelegenen – Ort meiner Großeltern: die Klage einer armenischen Richterin um die verlorene Vergangenheit.

Christian Gudehus, Sozialpsychologe an der Universität Bochum, sieht die Verquickung von persönlicher Betroffenheit, historischer Forschung und politischem Aktivismus skeptisch. Als Veranstaltungsorte der Genozid-Forschungskonferenzen werden allerdings mehr und mehr die Länder der Tatorte der Völkermorde gewählt: 2007 Sarajewo, 2011 Buenos Aires, 2015 Jerewan; 2017 wird es Kambodscha sein. Das Thema der Konferenz korrespondiert also mit den nationalen Anliegen des Gastgeberlandes. Das Land des Genozids identifiziert sich als Kollektiv mit dem erlittenen Leid.

Es brauchte einen neuen Begriff, als im beginnenden 20. Jahrhundert die Völkermorde im Kaukasus, in der Türkei oder Südwestafrika bekannt wurden. „Genozid“ wurde 1944 von dem Juristen Raphael Lemkin als Begriff geprägt und 1948 in einer UN-Konvention als nicht verjährender Strafbestand des Völkerrechts erkannt.

Frauen: vergewaltigt, beschwiegen . . .

Die Konvention definiert Völkermord in Artikel II als eine der folgenden Handlungen: die Ermordung von Angehörigen der verfolgten Gruppe oder das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden, die Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen, die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung sowie die zwangsweise Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Und folgende Schritte sind es, die Genozid vorhersehbar machen (und damit auch verhinderbar): Klassifizierung, Symbolisierung, Entmenschlichung, Organisierung, Polarisierung sowie planvolle Vorbereitung; dereigentlichen Vernichtung folgt die Leugnung.

„The other great silence“ erkennt der argentinische Wissenschaftler Der Ghougassianin seinen Forschungen am armenischen Völkermord 1915 und am argentinischen Genozid in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren. Es ist ein verordnetes Schweigen, eine gewaltsame Stille, die den Genozid begleitet: die Leugnung einerseits, wie sie die Türkei gegenüber Armenien vollzieht, sowie der Mangel an Mitgefühl für das Leid. Frauen wurden auf zweifache Weise Opfer im Genozid: einmal, wenn sie von ihren Tätern vergewaltigt wurden, das zweite Mal, wenn sie weder Raum noch Stimme bekamen, um ihr Leid auszudrücken. Das Schweigen über das Leid der Frauen, wie es im kurdischen oder armenischen Genozid Schandtaten überdeckte, ist eine Sprachlosigkeit, verordnet von der patriarchalen Gesellschaft. Die Schande der Opfer ist so groß wie die Schande der Nation, sie übersteigt die Sprache.

Und doch: Das erste literarische Dokument über den Genozid am armenischen Volk – lange vor Werfels „Musa Dagh“ – stammt von Aurora Mardiganian, die als Augenzeugin und dem Genozid Entkommene in ihren Memoiren von den Gräueln schreibt,vom Mord und von Vergewaltigung, „schlimmer als der Tod“, und selbst am ersten Film über den Genozid mitgewirkt hat, schon 1919. Das Bild der gealterten Aurora ist in der neuen Ausstellung des Genozid-Forschungszentrums in Jerewan zu sehen. Frauen im Genozid – das sind auch die Freiheitskämpferinnen, Verhafteten, Prostituierten, Guerilleras im argentinischen Staatsterror der Militärdiktatur, die in den Konzentrationslagern überlebten und zurückkehrten. Es gibt eine Stimme der Frauen, die überhört wird, wenn die Rede von sozialen Phänomenen ist: Sexuelle Gewalt, physisch wie psychisch, geschieht in den Genoziden der ganzen Welt und wird doch als quasi unvermeidliche „Nebenwirkung“ des Krieges angesehen.

In der Konsequenz der Gewalttaten des geschlechtsspezifischen Völkermordes, der auch Vergewaltigung, Zwangsheirat, Zwangssterilisation und die erzwungene Aufgabe der kulturellen Identität umfasst, steht der „kulturelle Genozid“. Der Verlust einer Kultur, das nackte Überleben – das bedeutet den Verlust der Traditionen, der Religionen, der Gebete, der Kultur in Kleidung oder in Erziehung der Kinder, in der Zubereitung der Speisen, in der Lebensweise.

Raphael Lemkins Begriff des „kulturellen Genozids“ aus dem Jahr 1948 – es gelang nicht, den Begriff in die UN-Konvention einzuschreiben – schließt sehr wohl die Verbrechen des geschlechtsbezogenen Genozids ein: Geburtenverhinderung, Deportation vonFrauen und Kindern, die Ermordung der Männer einer Gesellschaft. Mord ist nur eines der genozidalen Verbrechen. „Worse than death“ ließ viele Frauen, bevor sie in die Hände ihrer Feinde fielen, den Selbstmord wählen. Nein, jene unter den Tätern, die die Frauen kidnappten und in Harems festhielten, haben sie nicht gerettet. Versklavung ist in keiner Weise Rettung, das wäre neuerlich die Verleugnung des Genozids. Dass in der gewaltsamen Heirat mit ihren Tätern die Frauen ihrer Identität beraubt wurden, dass die Opfer zum Schweigen verpflichtet wurden, dass armenische Frauen in der Türkei nach 1915 nicht mit ihren Kinder über ihre Geschichte reden durften – was bedeutet das für die Geschichte einer Nation?

„Femizid“ wird der systematische Mord an Frauen genannt; dem gegenüber steht „Virizid“, der Mord an den Männern. Der juristisch neue Begriff „Femicide“ ist im Internet anlässlich des Eintrags eines Wikipedia-Artikels heiß umfehdet. Er wird verwendet, um die Ermordung von weiblichen Föten, Neugeborenen und Frauen zu benennen. Mediale Berichterstattung, historische Aufarbeitung und juristische Erfassung greifen ineinander: Der Begriff unterliegt derzeit der Überarbeitung der General Recommendation des UN-Komitees zur Eliminierung der Diskriminierung von Frauen.

Strategien des „Femizids“ – eines Begriffes, den 1976 die Soziologin Diana Russell geprägt hat – als Maßnahmen der Gewalt wirken über Generationen nach, unterliegen der Leugnung der Täternetzwerke und nützen die Ohnmacht der Sprache vieler Gesellschaften in Bezug auf Gewalt an Frauen. Die in Kanada tätige Forscherin Kaziwa Saliah stellt für ihre Forschung am Völkermord am kurdischen Volk fest: Noch gibt es keine einzige Forschungsarbeit zu Vergewaltigung im kurdischen Volk, keine einzige Aussage einer Frau oder eines Mannes dazu; jedwedes Interview mit Opfern würde von den männlichen Mitgliedern der Familie sofort unterbunden werden. Das große Schweigen ist ein Befehl der Männer.

Gender und Genozid hat auch die Kehrseite des Opferschicksals: Frauen als Täterinnen. Die US-Forscherin Sara E. Brown verglich Frauen in den Handlungsstrukturen des Völkermordes im Ruanda der 1990er- Jahre und im NS-Regime. Für die NS-Täterinnenschaft hat Brown Liselotte Meier gewählt, die im weißrussischen Lida als Sekretärin und Geliebte des Ghetto-Kommandanten Deportationsbefehle unterschrieb, von den Gegebenheiten der NS-Hierarchie profitierte und jüdische Sklavenarbeit für ihre Bedürfnisse benützte.

. . . und Frauen als Genozid-Täterinnen

Gegenüber steht die 83-jährige Bäuerin Susan in Ruanda. Beim Interview, mit dem Rosenkranz in der Hand, zeigt sie keinerlei Einsicht, obwohl sie Monate zuvor im Gerichtsaal ihre Taten gestanden hat. Von den 26 Frauen, die Brown interviewte, zeigten 22 keine Einsicht, verleugneten den Genozid im Gespräch, auch wenn sie vor Gericht im Detail anderes ausgesagt hatten.

Für die Vorbereitung einer Gesellschaft auf den Genozid erkennt Sara E. Brown Gemeinsamkeiten der ruandesischen und der deutschen Gesellschaft. Nachdem Frauen in gehobenen Positionen radikal in ihren Möglichkeiten beschnitten worden sind, gibt ihnen das patriarchale System der Diktatur plötzlich Freiheiten und eröffnet Handlungsspielräume. Sara E. Brown stellt fest, dass in der Genozid-Forschung bis heute weitgehend die Täterinnenschaft übergangen wird, was auch mit der Verleugnung des Blicks auf die besondere weibliche Opferschaft zu tun hat. Der Mythos der Frau als Seele des Hauses, als schützendes Zentrum der Familie verstellt den Blick auf ihre Kooperation mit Genozid-Tätern.

Wenn Nationen, die einen Völkermord erlebt haben, sich in besonderer Verantwortung für die Vermeidung zukünftiger Genozide sehen, dann bleibt für die Prävention die Forderung und die Arbeit an einer in jedweder Weise balancierten Gesellschaft bestehen. Armenien, das heuer mit seinem Genozid-Gedenken die Welt auf das Thema starkaufmerksam gemacht hat, wurde wiederholt, zuletzt im Oktober 2014, vom Menschenrechtskommissar des Europarates gerügt. So dringend wie die Erinnerung und die juristische Aufarbeitung des Völkermordes ist die Arbeit an einer Gesellschaft, die frei von Geschlechterzuordnung oder sexueller Orientierung ein gemeinsames Leben zulässt. Remember and Demand: Zur Forderung nach Anerkennung der Vergangenheit kommt die Forderung nach Arbeit für die Zukunft. ■


Das Europäische Forum Alpbach hat heuer das Thema Ungleichheit im Programm:
Das Panel am 30. August beschäftigt sich
mit dem Genozid am armenischen Volk
vor 100 Jahren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2015)

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