Wenn wir wollten, wie wir könnten

Wir spüren Anteilnahme, wenn jemandem Ungerechtigkeit widerfährt, sind berührt beim Anblick von Flüchtlingsfamilien. Doch noch während das Mitgefühl versiegt, fahren wir fort, jene Ordnung zu nähren, von der wir nur zu gut wissen, dass sie ungerecht ist. Der Mensch als Homo phantasticus: Skizze eines aberwitzigen Tiers.

Welch aberwitzige Tiere wir Menschen doch abgeben. Wie überaus herzlich wir sein können. Und: wie mörderisch. Und beides zugleich! Nicht nur manche von uns – wir alle! Nicht nur in ausgesprochen seltenen Fällen – immer! Wir verspüren Anteilnahme, wenn jemandem Ungerechtigkeit angetan wird, sind berührt beim Anblick von Flüchtlingsfamilien, fassungslos angesichts von Hungerkatastrophen. Doch noch während Mitgefühl und Schmerz versiegen, fahren wir fort, die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Ordnung zu nähren, von der wir nur zu gut wissen, dass sie ungerecht ist, unsozial, brutal und ja, auch mörderisch. Macht uns ausgerechnet diese bizarre Bipolarität zur führenden Spezies? Homo phantasticus, tränenreicher Diktator des Planeten?

Der Clou ist, wir verstehen es, unsere Janusköpfigkeit geheim zu halten vor uns. Es ist die kognitive Errungenschaft des Homo phantasticus schlechthin, dieses neuen Menschen, geboren aus der Konsum- und Informationsgesellschaft. Er ist herzzerreißend mitfühlend, empört und engagiert – und befriedigt parallel, und ohne es vor sich bemerken zu müssen, seine Begierden, koste es anderen, was es wolle. Selbsttäuschung als Darwinismus 2.0, Simultanfütterung des Egos als luxuriöse Arterhaltung.

Gleich morgen, pflegt Jean Ziegler, der alte, bewundernswerte Sozialrevolutionär, Autor und langjährige UN-Sonderberichterstatter bei seinen Auftritten zu sagen, gleich morgen können wir das Leid der Welt stoppen, den Hunger beenden, die Ungerechtigkeit, die Gewalt, gleich morgen, wenn – ja, wenn wir wollen. „16 Prozent der Weltbevölkerung verfügen über 82 Prozent aller globalen Vermögenswerte!“, ruft er. „Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind an Hunger!“ Mord sei das, denn Geld und Nahrung gebe es ausreichend, die Reichen vermehrten ihr Vermögen auf Kosten der Armen, der Norden seinen Wohlstand zu Lasten des Südens, Entwicklungsländer würden ausgebeutet wie eh und je, Agrarkonzerne verheizten Nahrung als Biotreibstoff, Banken spekulierten damit an den Börsen. „Dem muss endlich ein Ende gemacht werden!“ Die Zuhörer rundum applaudieren spontan. Er habe große Hoffnung, sagt da der 81-jährige und schaut in die Menge, ja er spüre geradezu, dass die Zivilgesellschaft drauf und dran sei, endlich aufzustehen.

Ich bin einer aus dieser Zivilgesellschaft und sehe mich um. Fragen sich auch die anderen, ob Jean Ziegler, der tapfere Don Quijote, tatsächlich glaubt, was er da sagt. Die Menschen, zu denen er spricht, werden, so wahrhaftig sie sich auch eine gerechtere, eine bessere Welt wünschen mögen, die dafür nötige Revolution nicht beginnen, morgen, wenn sie aus ihren warmen Betten steigen.

Ruhigstellung mit Biobanane

Warum sollten sie auch? Es geht ihnen doch gut. Die meisten von ihnen zählen – sie wären erstaunt, es zu hören – zu eben jenen „16 Prozent der Weltbevölkerung“ die „über 82 Prozent aller globalen Vermögenswerte“ verfügen. Und ihr soziales und ökologisches Gewissen lässt sich bequem ruhigstellen mit der einen oder anderen Empörung und Online-Solidarisierung, mit dem Kauf eines Öko-Schals, einer Biobanane und einem halben Kilo Fair-Trade-Kaffee.

Gewiss, wir könnten die Welt verändern wenn wir wollten. Doch wir wollen nicht. Jedenfalls nicht zum Preis jener Konsequenz, die nötig wäre. Es geht uns schrecklich gut: Die Konsumgesellschaft, die wir ablehnen, wir leben satt darin. Die Ablenkungs- und Scheininformationsgesellschaft, die wir beanstanden, sie unterhält uns wohlfeil. Bequem eingerichtet haben wir uns in der Welt, die wir kritisieren.

1961 empörte Jean-Paul Sartre die Europäer, als er ihnen in seinem legendären Vorwort zu den „Verdammten der Erde“ vorwarf, allesamt Komplizen der verbrecherischen Kolonialisten zu sein. „Wir sind alle Mörder“, bekamen die verdutzten Bürger zu hören. Denn, bemerkte Sartre, nicht nur die Eliten, alle profitieren von der Ausbeutung der Ärmsten. Was hat sich geändert seit damals?

Ein Unterschied jedenfalls ist: Dank World Wide Web und medialer Omnipräsenz wissen wir, anders als frühere Generationen, schmerzlich Bescheid, was rund um den Globus abläuft. Das setzt uns auch zu, bewegt und betrifft uns zuweilen so sehr, dass wir „all die Nachrichten gar nicht mehr hören und sehen können“. Zur Genüge kennen wir die Bilder der im Meer umkommenden Flüchtlinge, die wir, ginge es denn nach uns, freilich gerettet und wenn schon nicht eigens bei uns aufgenommen, so doch zumindest sicher nach Afrika zurückgeschickt hätten. Zur Genüge auch kennen wir die Verhältnisse in den asiatischen Textilfabriken, deren Mode uns so geschmackvoll kleidet. Wissen ebenso um die Zustände in den Minen, aus denen die seltenen Erden für unsere Smartphones stammen.

Weil wir auf unsere smarten Phones und all die übrigen lieb gewonnenen Annehmlichkeiten nicht verzichten möchten, vornehmlich aber natürlich, weil „wir alleine“, wir Masse, die Welt ja nicht ändern können, vertiefen wir uns stattdessen in Themen und Problemlösungen dritter Ordnung, lassen uns in ein sonderbares Fieber fallen, eine wie ohnmächtige Anteilnahme. Unsere mitmenschliche Ambition ist ablesbar an unseren Postings, zeigt sich schwarz auf weiß in unseren Unterstützungserklärungen und in Essays wie diesem. „Sentimentenschwindel“ würde C. G. Jung dazu sagen. Und womöglich auch dies: Wir, die für den Wandel Nötigen, wir Aufgeschlossenen, Aufgeklärten, wir Kritischen – sind nicht kritisch. Tun nur so, als ob. Es schmeichelt uns.

Uns geht es gut, anderen nicht so sehr, das haben wir erkannt und damit keine Scham unsere Freude trübt, es uns also weiterhin unverschämt gut geht, üben wir uns in Gesellschaftskritik, in Mittagsgeplauder, Sonntagsreden und leerem Protest. Nicht nach Moral sehnen wir uns, sondern einem uns anheimelnden Moralgefühl. Beteiligen wir uns an einem Shitstorm, haben wir eine Schlacht im Namen des Guten geschlagen und können wieder ausspannen für den Rest der Woche. Werden wir gar Pate bei SOS-Kinderdorf, haben wir ausgesorgt bis weit über Weihnachten hinaus. Täte jeder so viel wie wir, wäre immerhin ein Anfang getan, sagen wir uns.

Beinahe rund um die Uhr lassen wir uns jagen von unserem Ehrgefühl, beteiligen uns an Online-Petitionen für Gerechtigkeit, Weltfrieden und faire Arbeitsbedingungen. Und auch ganz handfest, im realen Leben, sind wir sozial aktiv. Aktionen wie diese Ice-Bucket-Challenge lassen anfangs zwar Zweifel aufkommen, aber es geht um die Solidarität mit anderen Menschen, also kippen wir uns vor laufender Kamera einen Kübel Eiswasser über den Kopf. Wenn's auch nicht allzu viel bringt, gesellschaftlich hat's doch Sinn, denn unsere Freunde liken es.

Derart in Atem hält uns, dass wir medienbedingt Mitwisser sind. Und von Mitwissern, wir kennen das, ist es nicht weit zu Mittätern. „Alles, was das Böse braucht, um zu triumphieren, ist das Schweigen der guten Menschen“, sagte der Philosoph Edmund Burke. Und wir freilich möchten zu den Guten gehören, darum müssen wir ständig hinlänglich viel Gutes tun wollen, reiben es all jenen Menschen unter die Nase, vor denen wir etwas gelten möchten, Altruismus soziologisch besehen also zum sprichwörtlich gesunden Egoismus wird. Und so leiten wir also zur Sicherheit noch einen Link weiter und das Bild von uns als politisch korrekter, übergossener Pudel.

Dass wir nicht die Guten sind

Dass wir nicht die Guten sind, der Gedanke verschwimmt hinreichend schnell. Adornos „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ mahnt andere. Wir sind auch nicht gezwungen zu bemerken, dass die Wirklichkeit abseits unserer Ablenkungsmanöver erwächst, aus unseren alltäglichen Handlungen und Unterlassungen. Ödipus blendete sich, um die Leiden nicht mehr sehen zu müssen, die er aktiv, aber ohne bösen Willen, mit „unabsichtlichen Taten“, verursacht hatte. So ist es ihm in Sophokles' Stück „Ödipus auf Kolonos“ möglich, sich als frei, als gänzlich frei von Schuld zu wähnen.

Zuweilen träumen auch wir, ohne Macht und also Schuld zu sein. Doch jene, die wir kritisieren für den Zustand des Landes und der Welt – Politiker, Wirtschaftsbosse, Milliardäre und Finanzjongleure –, deren Kollaborateure sind wir. Täglich entscheiden wir uns für „ihr System“, das wir längst schon zu unserem gemacht haben. Wir wählen systembewahrende Parteien, kaufen Produkte systembewahrender Konzerne, verbiegen uns systembewahrend im Job, empören uns über Finanzriesen, weil sie ihre Verluste sozialisieren, und belassen unsere Konten und Pensionsfonds systembewahrend bei ihnen. Wir lassen zu, dass die Steuern auf Finanzgewinne systembewahrend sinken und jene auf Arbeit steigen. Leidenschaftlich auch empören wir uns über unsoziale, steuervermeidende Multis und googeln, facebooken, twittern, whatsappen, amazonisieren dennoch weiter drauf los und schlürfen Kaffee bei Starbucks. Tag für Tag befeuern wir die zur Selbstverständlichkeit gewordene Falschheit.

Die Verantwortlichen, „die, die sich's richten“, „die da oben“, das sind auch wir. Selbstverständlich, wir wollen nicht bloß gefühlt, sondern tatsächlich die Guten sein, aber das ginge, nähmen wir es denn allzu ernst, gewiss auf unsere Kosten. Wir Homines phantastici spüren: Für die volle Konsequenz reicht es evolutionär noch nicht. Aber immerhin, es reicht für eine salzig-süße Träne. Ach wie schön unser Leben ist!

„Ich bin anderer Meinung“, sagte meine Frau nach dem Lesen dieses Essays und lächelte. Sie vertrete lieber den buddhistischen Ansatz: „Rettest du auch nur einen einzigen Schmetterling, ist für die Welt etwas gewonnen.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2015)

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