Ein kleines Café in Wien

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Seit vielen Jahren trifft sich jeden Mittwoch eine Gruppe älterer Herren in einem Café in der Wiener Innenstadt. Sie bilden eine Gesprächsrunde in der Art des Wiener Salons der Vorkriegszeit. Die Mitglieder dieser „Mittwochrunde“ sind die allerletzten Vertreter einer für immer zerstörten Welt: der Welt des alten jüdischen Wiener Bürgertums.

Man überlebt nicht alles, was man überlebt.
Ilse Aichinger

Seit vielen Jahren trifft sich regelmäßig – jeden Mittwoch – eine Gruppe älterer Herren in einem Café in der Wiener Innenstadt. Sie bilden eine Gesprächsrunde in der Art des Wiener Salons der Vorkriegszeit. Jeder Teilnehmer dieser „Mittwochrunde“ hat eine außerordentliche Biografie. Diese Menschen sind die letzten Repräsentanten der unwiederbringlichen Welt des jüdischen Bürgertums in Wien, die Österreich zu einem Zentrum der Moderne gemacht hat. Diese Welt wurde von den Nationalsozialisten zerstört, sie ging unter in den Vernichtungslagern in Osteuropa.

Mittwochs bei den Zusammenkünften kreisen viele Erzählungen um die Zeit der Verfolgung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten der Männer eine unbeschwerte und glückliche Kindheit und Jugend. Über Nacht waren sie stigmatisiert, mussten die Schulen verlassen, die Väter wurden verhaftet, die Familien ihrer Wohnungen beraubt – sie wurden gewaltsam aus ihrer Lebensbahn gerissen, erlebten Verfolgung, Deportationen, Ermordung ihrer Nächsten, Vernichtungslager und Todesmärsche.

Kurt Steinbach, mit 93 Jahren der Älteste der Runde – er fehlt krankheitsbedingt auf unserem Gruppenfoto – und mit einem phänomenalen Gedächtnis ausgestattet, wohnte am Wildpretmarkt im ersten Wiener Bezirk. An jenen Freitag, den 11. März 1938, erinnert er sich, als wäre es gestern passiert. Nach Kurt Schuschniggs Abdankung als Bundeskanzler schrien die Menschen plötzlich „Sieg Heil! Heil Hitler!“, bis ihre Kehlen heiser waren. Am Tag davor hatten die gleichen Menschen skandiert: „Unser Führer ist kein Tapezierer, Rot-Weiß-Rot bis in den Tod!“ Der erste Bezirk glich einem Hexenkessel. Autos hupten, bewaffnete SA-Trupps marschierten durch die Stadt. Immer wieder ertönte: „Wenn's Judenblut vom Messer tropft . . .“ Kurt Steinbach entstammt einer orthodox-jüdischen Familie und eilte heim, wo man bedrückt das Sabbatmahl einnahm.

Herbert Schwarz, heute im 91. Lebensjahr, wuchs in einer eleganten großbürgerlichen Familie auf, die kaisertreu und zutiefst der österreichischen Idee im geistig-kulturellen Sinne Hugo von Hofmannsthals verbunden war. Sein Großvater war Präsident der Österreichischen Produktenbörse, Offizier in der k. u. k. Armee, ein Homo austriacus aus Überzeugung. Sein Vater, ein Chemiker, war Offizier im Ersten Weltkrieg, Reserveoffizier in der Ersten Republik und hatte eine chemische Fabrik. Er wurde 1938 stante pede verhaftet, ins KZ Buchenwald überstellt,wo er an den erlittenen Misshandlungen verstarb. Per Post wurde der Familie ein Paket mit der Asche zugeschickt und nach Zahlung von acht Reichsmark ausgehändigt. Bis zur Deportation nach Riga 1941 lebte Herbert mit seiner Mutter in einem „Judenhaus“ in der Leopoldstadt, in einer kleinen Wohnung mit drei anderen jüdischen Familien. Die große Wohnung in der Wallnergasse, mit wertvollen Bildern und kostbaremMobiliar, war arisiert worden. Bruno Granichstaedten, Onkel von HerbertSchwarz, konnte flüchten. Seine Operette „Orlow“ wurde in Deutschland aufgeführt, er hatte die Erlaubnis, als Dirigent mitzuwirken, nach der Aufführung durchschwammen er und seine Frau die Elbe, flüchteten nach Frankreich und weiter in die USA.

Manfred Wonsch hatte einen angesehenen Rechtsanwalt zum Vater, der durch christliche Freunde von seiner bevorstehendenVerhaftung durch die Gestapo gewarnt wurde. Die Fluchtversuche scheiterten. Als sein Vater 1939 aus der Gestapohaft freigelassen wurde, flüchtete die Familie nach Jugoslawien. Eine Odyssee des Schreckens begann. Wiederholt werden sie festgenommen, wieder freigelassen. Manfred und sein Bruder werden in ein italienisches Lager transportiert. Den Italienern tun die beiden hungernden Burschen leid; sie versuchen,ihnen gelegentlich Essen zuzustecken; ein SS-Mann, der die beiden Burschen geraumeZeit beobachtet hat, wirft eine Schüssel mit Polenta ins Gras, uriniert darauf und entfernt sich. Aus der Ferne beobachtet er, wie sich die beiden Hungernden auf die vom Urin durchtränkte Polenta stürzen und sie gierig aufessen.

Walter Fantl entstammt einer Familie, die in Bischofstetten, Niederösterreich, ein kleines Warenhaus besaß. Die Familie warbeliebt. Die lokalen Nationalsozialisten und Polizisten weigerten sich, Fantls Vater zu verhaften. SA-Männer aus der Nachbargemeinde sperrten ihn im Gemeindekotter ein. Der Besitz der Fantls wurde arisiert. Sie mussten Bischofstetten verlassen und übersiedelten nach Wien in ein „Judenhaus“ im zweiten Bezirk. Fantl wurde Lehrling beim Schlosser Wonsch, einem Onkel von Manfred Wonsch. Dieser war ein Wiener Original jüdischer Prägung. Er sprach breiten Wiener Dialekt, war bärenstark und stolz auf sein Judentum. Schlosser Wonsch und sein Gehilfe Walter Fantl hatten die Aufgabe, jüdische Wohnungen, die von ihren Besitzern zwangsweise verlassen wurden, aufzusperren. Danach durchsuchte ein Trupp von Gestapoleuten diese Wohnungen nach Wertsachen. Das Mobiliar wurde von der Möbelfirma Witke abgeholt und versteigert. Außerdem hatten die beiden gemeinsam mit anderen jüdischen Arbeitern diverse Tätigkeiten in von Gestapoleuten und Eichmann-Männern arisierten Villen durchzuführen. Auf diese Weise begegnete Walter Fantl mehrmals Alois Brunner, der wegen seiner Grausamkeit einer der gefürchtetsten Eichmann-Männer war. Alois Brunner war für den Tod von etwa 200.000 Juden verantwortlich und lebte nach dem Krieg jahrzehntelang unbehelligt in Syrien.

Herbert Schrott war bereits als Volksschüler mit der religiösen Judenfeindschaft konfrontiert. Ein Mitschüler machte ihm den Vorwurf: „Unser Katechet hat in der Religionsstunde gesagt: Die Juden sind schuld am Tod des Heilands, sie haben ihn ermordet, und auch du bist schuld daran.“ Herbert wusste gar nicht, wer der Heiland sei, und wurde daheim von seinem Vater beruhigt mit der Versicherung, weder er noch ein Mitglied der Familie Schrott hätten den Heiland getötet. Interessanterweise bagatellisierte derVater von Herbert Schrott auch nach dem „Anschluss“ die nationalsozialistische Gefahr: „Was soll mir schon passieren! Ich bin ein österreichischer Patriot, Hitler und seine Leute werden schon zur Vernunft kommen und sich mäßigen.“ Alle Warnungen schlug er in den Wind und verblieb mit der Familie in Wien. 1941 wurden die Schrotts nach Theresienstadt deportiert.

Alfred Schreier lebte in gutbürgerlichen Verhältnissen in der Frauenfelderstraße in Wien-Hernals. Der Vater war Dentist. Über Nacht wurde die Familie Schreier für vogelfrei erklärt. Fredl wurde von der Volksschule verwiesen, unter dem Gespött seiner Mitschüler – ein Trauma, das er zeitlebens nicht überwinden konnte. Der Vater wurde verhaftet und ins KZ Dachau überstellt. Ordination und Wohnung wurden arisiert; zuvor hatten Nachbarn die Wohnung ausgeplündert und Fredls Bruder wegen Rassenschande angezeigt. Der Fünfjährige hatte mit einem christlichen Mädchen gespielt. Die Mutter mit ihren drei Buben war obdachlos. Fredl und seine Brüder kamen in ein Waisenheim der Israelitischen Kultusgemeinde, die Mutter fand Unterkunft bei Freunden. Tagelang stellte sie sich gemeinsam mit Hunderten Juden vor ausländischen Konsulaten an. Passanten demütigten, bespuckten und beschimpften die Wartenden. Nach sechs Monaten kam Fredls Vater aus Dachau frei und musste innerhalb von 48 Stunden das Land verlassen, ohne Geld und Pass. Illegal gelangte die Familie nach Italien, hier blieb man während des Krieges – der Vater in einem Lager, die Mutter mit den Buben in einem süditalienischen Dorf unter ärmlichsten Bedingungen. Nach dem Krieg wollten die Schreiers die arisierte Wohnung zurückbekommen; der Ariseur, Träger des Blutordens, hatte die Sympathie des Richters. Die Wohnung verblieb ihm. Alfred wanderte in die USA aus, gründete eine Familie und kehrte nach seiner Pensionierung aus lauter Heimweh nachWien zurück.

Herbert Löwy überlebte als „U-Boot“ in Wien. Sein Vater konnte 1939 ins Ausland flüchten, die Mutter war am Stichtag 15. November 1935 (Erlass der Nürnberger Gesetze) noch keine Jüdin, erst später trat sie zum Judentum über, daher galt Herbert als „Volljude“, wurde von der Schule relegiert und besuchte eigens errichtete „Judenschulen“; erst am Hundsturm in der Stumpergasse, danach in der Grüngasse und zuletzt in der Castellezgasse. Ab 1941 gab eskeinen Unterricht, es fand nur im jüdischen Hort in der Zirkusgasse ein Treffen von etwa 50 Jugendlichen statt, die insgeheim von Doktor Bondi unterrichtet wurden. Herbert hatte Glück im Unglück, da an einem Tag im Jahre 1942 Bondi und alle dort befindlichen Jugendlichen verhaftet, bald deportiert und in Vernichtungslagern ermordet wurden. Sein Glück war, dass er an diesem Tage fehlte, sonst hätte auch er nicht überlebt. Er tauchte unter bei seinen arischen Großeltern, die in Wien eine Wohnung in der Westbahnstraße und in Tullnerfeld ein Haus hatten.

Herberts Freund Kurt Blumenfeld, der in der Kaiserstraße, geschützt durch seine arische Mutter, lebte, erhielt Klavierunterricht von Edmund Eysler. Eysler hatte 70 Operetten komponiert, so „Die goldene Meisterin“ (1927 uraufgeführt), war Ehrenbürger der Stadt Wien in der Ersten Republik, kam nach einem kurzen Aufenthalt im Ghetto Theresienstadt frei (diese Information stammt von Rechtsanwalt Eduard Wonsch, der mit Eysler befreundet war und dem Eysler unmittelbar nach dem Krieg davon erzählte) und lebte mit seiner arischen Gattin im achten Bezirk, Ecke Zeltgasse/Strozzigasse.

Auf Ersuchen von Kurt Blumenfelds Mutter erhielt auch Herbert Löwy einmal wöchentlich Klavierunterricht von Edmund Eysler. Der Unterricht konnte nur heimlich erfolgen. Von Eysler aufgefordert, besonders wachsam und vorsichtig zu sein, schlich Herbert, der keinen Judenstern trug, zu Edmund Eyslers Wohnung. Für Herbert Löwy war dieser Unterricht eine wichtige Motivation, gegen alle Widerstände anzukämpfen.

Bernhard Morgenstern lebte mit seinen fünfGeschwistern nach dem „Anschluss“ Österreichs in einem Waisenheim der Israelitischen Kultusgemeinde. Die Eltern hatten Wien in Richtung Polen verlassen müssen und versuchten, für die zurückgebliebenen Kinder ebenfalls eine Ausreise nach Polen zu bekommen. Aus dieser Zeit stammte die Freundschaft mit Fredl Kozian, dessen Eltern geschieden waren. Die Mutter war Jüdin, der Vater Christ. Durch die Scheidung entfiel der Schutz, den Juden in Mischehen hatten. Anfang 1942 wurden Bernhard Morgenstern und Fredl Kozian nach Theresienstadt deportiert.

Bernhard Morgenstern ist ein Mensch mit außergewöhnlichem Wortwitz, geistreichund ungemein geistesgegenwärtig. Er kann aus dem Stegreif unzählige Gedichte und Couplets von Walter Lindenbaum, Paul Morgan, Fritz Grünbaum, Armin Berg, Karl Farkas, Hermann Leopoldi und Fritz Löhner-Beda rezitieren. An Bernhard Morgenstern ist ein großer Conférencier verloren gegangen. Bei den Mittwoch-Zusammenkünften wird erimmer wieder gebeten, einige Couplets aus seinem reichen Fundus zu singen. Voll melancholischer Heiterkeit stimmt er gerne Walter Lindenbaums Lied vom „Kleinen Café in Terezín“ an. Walter Lindenbaum hat als Insasse des Ghettos Theresienstadt(tschechisch Terezín) inAnlehnung an Hermann Leopoldis „Ein kleines Café in Hernals“ dieses Lied verfasst.

Bernhard Morgenstern erklärte wiederholt mit Nachdruck, dass für ihn Theresienstadt „ein Sanatorium“ war, verglichen mit dem, was er später in Auschwitz und anderen Lagern erlebt hat. Herbert Schrott, der ebenfalls in Theresienstadt und Auschwitz war, pflichtete ihm bei, aber mit der Einschränkung: „Nur wenn man jung und gesund war, konnte man in Theresienstadt gut überleben.“ Auch Walter Fantl war mit seinen Eltern zwei Jahre in Theresienstadt. Auch er ist dieser Ansicht. Jedoch, alle drei, Walter Fantl, Bernhard Morgenstern und Herbert Schrott, lebten in ständiger Angst vor den monatlich stattfindenden Transporten nach Osten in die Vernichtungslager.

Es war die „absolute Macht über Leben und Tod“, mit der die SS ihre Gefangenen peinigte, demütigte undjederzeit leiden und sterben lassen konnte. Ein anschauliches Beispiel: FredlKozian und dessen Mutter waren nach Theresienstadt deportiert worden. Und Fredls Vater, der in der Wehrmacht an denverschiedenen Frontenkämpfte, schickte den beiden Lebensmittel und Bekleidungsstücke. Als Fredl und seine Mutter nach Auschwitz deportiert werden sollten und sich beide schon im Viehwaggon befanden, gelang es Fredl, einem derSS-Männer einen Brief seines Vaters zu zeigen, dabei rief er: „Mein Vater kämpft an der Front, und ihr wollt mich und meine Mutter umbringen!“ Der SS-Mann holte beide aus dem Transport heraus, und sie blieben am Leben. Zwei andere Ghettoinsassen wurden statt ihnen auf die Reise in den Tod geschickt. Die Zahl der zu Deportierenden musste stimmen.

1944 wurden Herbert Schrott und dessen Eltern, die Familie Fantl sowie Bernhard Morgenstern, dessen jüngerer Bruder und Schwager nach Auschwitz deportiert. An der Lagerrampe, nach Verlassen der Viehwaggons unter Geschrei und Peitschenhieben der SS-Leute sowie dem Gebell der Schäferhunde, werden die Menschen in zwei Gruppen geteilt: Mit einem Fingerzeig werden die einen nach rechts und die anderen nach links gewiesen. Herbert Schrott und Vater, Walter Fantl, Bernhard Morgenstern und Schwager nach links – alle anderen nach rechts, darunter auch der jüngere Bruder vonBernhard Morgenstern, ein ungemein begabter Bub, der in Theresienstadt in Erich Kästners Theaterstück „Pünktchen und Anton“ den Anton gespielt hat. Mit Tränen in den Augen sagt Morgenstern: „Es war das letzte Mal, dass ich meinen Bruder gesehen habe.“ Etwa einen Tag später fragte Bernhard einen der älteren Mitgefangenen, der schon länger in Auschwitz war, nach dem Verbleib seines Bruders. Wortlos zeigte dieser auf den Schornstein, aus dem Rauch quoll. Die Überlebenden hatten Sklavenarbeit zu verrichten. Krankheit und ein Nachlassen der Arbeitskräfte bedeuteten den Tod.

Herbert Schwarz wird mit seiner Mutter und Kurt Steinbach nach Riga deportiert. Tagelang dauert die Fahrt, bei bitterer Kälte, ohne Nahrung und ohne Wasser. Bereits während der Eisenbahnfahrt sterben viele Menschen. Nach der Ankunft befiehlt ein SS-MannHerbert Schwarz, die Waggons gemeinsam mit anderen jüngeren Leuten zu reinigen und die Leichen aus den Waggons zu schaffen. Durch die Kälte sind die Toten aber festgefroren. Sie lassen sich nichtbewegen. Auf Befehl der SSmüssen Herbert Schwarz und seine Kameraden mit Eisenstangen die gefrorenen Leichen aus dem Boden herausbrechen. Danach marschieren sie bei Temperaturen von minus 35 Grad Celsius vom Bahnhof zum Ghetto von Riga, etwa 15 Kilometer entfernt. Beim Betreten des Ghettos finden sie in den Häusern gefrorene Essensreste in Geschirr und Töpfen. Teller und Trinkgefäße stehen auf Tischen. Erst später erfährt Herbert Schwarz, dass die 25.000 Juden aus Riga, die zuvor im Ghetto wohnten, in ein nahe gelegenes Waldstück getrieben und auf einer großen Lichtung erschossen worden waren. Diese Exekutionen fanden ein bis zwei Tage zuvor statt, um im Ghetto Platz zu schaffen für die Juden aus Österreich und Deutschland. Kurt Steinbach und Herbert Schwarz werden zum Arbeitsdienst eingeteilt. Auch die Mutter von Herbert Schwarz.

Später kommen alle drei in das KZ Kaiserwald bei Riga. Bei Kälte und Mangelernährung müssen sie schwerste Arbeiten erledigen. Am 3. März 1945 feiert Herbert Schwarz Geburtstag. Seine Mutter schenkt ihm einen Laib Brot. „Es war das schönste Geschenk, das ich jemals im Leben erhalten habe. Meine Mutter muss sich dieses Brot über einen längeren Zeitraum abgespart haben.“ Die Mutter stirbt, Herbert Schwarz überlebt, ebenso Kurt Steinbach.

Auf mein Befragen erfahre ich von den einzelnen Mitgliedern der Runde, dass sie bei ihrer Rückkehr nach Wien keineswegs willkommen waren. Ungläubiges Staunen, dass sie noch leben, eisige Ablehnung und offene Feindschaft schlagen ihnen entgegen. Sie erleben, was Helmut Qualtinger im „Herrn Karl“ so genial darstellte: das Selbstmitleid der Täter und der Mitläufer, die in die Rolle der „verfolgenden Unschuld“ geschlüpft sind.

Die Mitglieder unserer „Mittwochrunde“ waren in ihrer Jugend aktive Sportler der Hakoah und sind auch jetzt als betagte Herren einmal wöchentlich sportlich aktiv. Manfred Wonsch, der für die Hakoah eine Meisterschaft im Hochsprung bei der Makkabiade gewonnen hat, ist ein Musikbegeisterter, der fast jede Opernaufführung einige Dutzend Male besucht hat: so den „Rosenkavalier“ bisher 84-mal, „Elektra“ 47-mal, den „Bajazzo“ 40-mal. Bei jeder der Zusammenkünfte im kleinen Café gibt er – a là Marcel Prawy – ein Privatissimum über Musik, über die Entstehungsgeschichte von Opern, über Anekdoten von Komponisten. Er hat sich dieses enorme Wissen als Autodidakt angeeignet, da er durch die Zeit der Verfolgung keine Schulen besuchen konnte.

Trotz all dem Leid, das ihnen durch Ermordung ihrer Angehörigen, Freunde und Bekannten widerfahren ist, lieben die Herren Wien und Österreich. Die Mitglieder dieser „Mittwochrunde“ sind die letzten – dieallerletzten – Vertreter des österreichischen Vorkriegsjudentums, dem dieses Land so viel zu verdanken hat. Es sind Menschen, die sichungeachtet immenser Leidenserfahrungen ein gutes Stück Geist, Witz, Humor und Humanität retten konnten. In ihren Reminiszenzen, ihren Erzählungen und Anekdoten entsteht, wie in einem Spiegel, das Bild einer für immer zerstörten Welt: der Welt des Wiener Judentums der Vorkriegszeit. ■

Geboren 1944 in einem Keller in Wien-Leopoldstadt. Überlebte mit seinen Eltern, Josef und Sidonie, als „U-Boot“. Schule und Studium in Wien. Dr. med. Wie sein Bruder, Ludwig, Arzt für Allgemeinmedizin in Wien. Publikationen zu zeitgeschichtlichen und religionsphilosophischen Themen. Vorträge in Schulen und in der Erwachsenenbildung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2016)

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