Was braucht der Mensch?

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Themenbild(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Reden wir ausnahmsweise nicht vom Wetter – und auch nicht von den Migrantenströmen (beides besorgniserregend). Gab's da nochwas? Angeschlagener Mittelstand. Ausbeutungsverträge für junge Akademiker. Prekäre Altenbetreuung. Staatlicher Kontroll- und Abgabenwahn. Digitale Totalverblödung. Alles bestens.

Wie viele Dinge es doch gibt, die ich nicht brauche. Sokrates

Hätte Sokrates einen unserer heutigen Konsumtempel besucht, er hätte, ob des Überflusses der angebotenen Lebensmittel, Textilien, Elektrogeräte, sich spöttisch abgewandt. Kirschen, Weintrauben zu jeder Jahreszeit, Kühlschränke oder Fernsehapparate in allen Ausführungen, Computer und iPods in allen möglichen Schattierungen. Überfluss, wohin man auch blickt. – Braucht der Mensch das wirklich?

Man kennt das doch. Ob wir das Internet,die Mailbox oder den iPod einschalten – die Fülle an Informationen erdrückt uns. Das Surfen im Netz liefert eine Informationsfülle, die dazu führt, dass die Überinformation uns eigentlich nichts mehr wahrnehmen lässt. Dem überinformierten Bewusstsein wird letztlich alles gleichgültig. – Braucht der Mensch das wirklich?

Die Kommunikationsmöglichkeiten sind durch Mobiltelefone, Twitter und Facebook enorm erweitert worden – Skype und Multiphone ermöglichen uns, jederzeit weltweit Kontakte herzustellen. Die unmittelbare Kommunikation, das Gespräch verschwindet. – Braucht der Mensch das wirklich?

Die Fortschritte auf dem Gebiet der Medizin versprechen uns, Krankheiten zu heilen, die noch vor etlichen Jahrzehnten zum Tod geführt hätten. Sie versprechen uns auch, durch intensivmedizinische Maßnahmen das Sterben hinauszuzögern und uns immer älter werden zu lassen. – Braucht derMensch das wirklich?

Die Gentechnik im Verein mit Mikrobiologie und Nanotechnologie greift zutiefst in unser Leben ein. Krankheiten genetischer Art können verhindert werden, die Methode der Crispr/Cas9 ermöglicht gezielte Eingriffe in die DNA-Kette und vermag sogenannte defekte Gene auszuschalten. Behinderungen, die darauf zurückzuführen sind, wird es nicht mehr geben. – Braucht der Mensch das wirklich?

Die Simulation des menschlichen Gehirns durch Computer befindet sich auf dem Vormarsch, ebenso wie die Verschmelzung von Gehirn und Computer, und neuerdings wird auch eine Kreuzung aus Tier und Mensch zur Diskussion gestellt. Die Einpflanzung von Chips in den Menschen – zum Zweck eines Enhancement – klingt demgegenüber ja nachgerade harmlos. – Braucht der Mensch das wirklich?

Der Ersatz des Menschen durch Roboter ist auf dem Weg. Nicht allein in der Altenbetreuungwerden immer mehr Roboter eingesetzt, auch zu anderen Arbeiten könnensie herangezogen werden,von Reparaturen bis hin zum Kochen oder, wie jetzt schon in Japan, bis hin zum Flötespielen. Das selbstfahrende Auto, gelenkt durch Computer, es ist bereits Realität. – Braucht der Mensch das wirklich?


Mit dem Brauchen ist es ja auch eine eigenartige Sache. Brauchen kann heißen „benötigen“, aber auch „gebrauchen“ oder „verbrauchen“. Benötigen würde auf das Materielle, das zum Überleben Nötige verweisen. Gebrauchen tun wir etwas für einen bestimmten Zweck. Ich gebrauche Werkzeuge, um etwas zu erreichen. Verbrauchen tue ich jedoch nicht bloß Güter, die ich konsumiere, ich verbrauche auch meinen Lebensraum, meine Lebenszeit und die Ressourcen, die mir die Umwelt bietet.

„Verbrauchen“ ist wohl die derzeit gängigste Form des Brauchens, der Homo sapiens ist in den vergangenen Dekaden zu einem Homo oeconomicus geworden. Die Globalisierung hat dazu geführt, dass die Wirtschaft einen Rang in unserem Leben einnimmt wie niemals zuvor. Wir leben in einer von Ökonomie und von Technik bestimmten Welt. Unsere Ansprüche können am Ideal des Sports gemessen werden. Höher, schneller, weiter.

Dies ist gleichsam die Devise unseres ökonomischen Handels, wir kriegen nie genug. Und das gilt nicht allein für die weltumspannenden Konzerne, für die Bankgeschäfte, für den sogenannten Turbokapitalismus, der in einen „Terror der Ökonomie“ (Viviane Forrester) ausgeartet ist. Die freie Marktwirtschaft, das Vertrauen in die „unsichtbare Hand“ des Marktes, der weltumspannende Kapitalismus, die Auffassung, dass es das einzige Ziel eines Unternehmens sei, „den Profit zu maximieren“ (Milton Friedman), verstärken den Eindruck, dass die Wirtschaft nicht für den Menschen, sondern der Mensch für die Wirtschaft da wäre. Man muss hier nicht mit dem Dreschflegel zuschlagen,wie dies etwa Jean Ziegler tut, wenn er das marktwirtschaftliche System als kannibalistisch bezeichnet unddarauf verweist, dass unter der Weltdiktatur des Kapitals 500 Konzerne über 52 Prozent des gesamten Sozialproduktes verfügen. Dass alle fünf Sekunden ein Kind verhungert, kann dann gleichsam als Kollateralschaden in Kauf genommen werden. Dass dabei auch die Politik als begrenzende Ordnungsmacht unter die Räder gekommen ist und im Grunde unter der Diktatur ökonomischer Bedingungen steht, sollte nicht länger verschleiert werden.

Dass mit diesen Entwicklungen die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer geworden ist, liegt auf der Hand. Dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, dass der Ruf nach einer Mindestsicherung immer lauter wird, ändert nichts daran, dass die Solidarität in unserer gegenwärtigen Gesellschaftsordnung allmählich zu verblassen beginnt. Der Frage nach einer Verteilungsgerechtigkeit stehen wir trotz aller philosophisch ausgeklügelten Gerechtigkeitstheorien noch immer hilflos gegenüber. Dabei sind bei den finanziellen Transaktionen die Deckungen gegenüberechten Werten nicht mehr gegeben. Wir beginnen in einer Welt zu leben, in der nicht allein Zeichen für fiktive Werte stehen, sondern Zeichen für weitere Zeichen sind. Es ist immerhin bedenkenswert, dass Albert Camus Jahrzehnte vor der Globalisierung formuliert hat (1959): „Seit ungefähr hundert Jahren leben wir in einer Gesellschaft, die nicht einmal die Gesellschaft des Geldes genannt werden kann, sondern als Gesellschaft der abstrakten Symbole des Geldes bezeichnet werden muss. Die Gesellschaft der Händler kann als Gesellschaft definiert werden, in der die Dinge von den Zeichen verdrängt werden.“


Wir haben den Bezug zur Realität verloren. Postmoderne Denker wie Jean Baudrillardsprechen von einer Agonie des Realen oder einer Ermordung der Realität: „Das perfekte Verbrechen ist das einer uneingeschränkten Realisation der Welt durch Aktualisierung aller Daten, durch Transformation all unserer Handlungen, aller Ereignisse in reine Information – kurz, die Endlösung, die vorzeitige Auflösung der Welt durch Klonierung der Realität und Vernichtung des Realen durch sein Double.“ Diese Verdrängung der Realität wäre ohne die Informationstechnologie kaum möglich. Gegen die Allmacht der Computer ist inzwischen – selbst aus den Reihen der Computergläubigen – mannigfache Skepsis laut geworden. Dies betrifft nicht bloß die maßlose Verwendung der vom Computer bereitgestellten Kommunikationsmöglichkeiten. Die von Facebook oder Twitter eröffneten Kommunikationsformen ersetzen allmählich jene Kontakte, die bis dato entscheidend waren: Gespräch und leibhaftige Begegnung. Kritiker wie Morozov, Horx, Schirrmacher oder Spitzer verweisen auf eine progressive, digitale Demenz oder Verblödung, die immer mehr um sich greift.

Ernster zu nehmen ist allerdings die Tendenz der Verschmelzung von Mensch und Computer, wie sie etwa im Human Brain Projekt deutlich wird: Sie eröffnet Wege zu einer selbst gesteuerten Evolution, wie sie im Transhumanismus in Aussicht gestellt wird. Daneben ist Nietzsches Übermenscheine harmlose Idee. Der Transhumanismus, in groben Zügen bereits von Aldous Huxley vorgezeichnet, zielt im Verein mit Genetik, Bio- und Nanotechnologie darauf ab, eine Gehirn-Computerschnittstelle zu etablieren, die zu einer Superintelligenz führen soll. Darüber hinaus wird von den Hohepriestern des Transhumanismus die Umprogrammierung des Menschen vorausgesagt: Durch Nanoroboter werden unsere Zellen auf Unsterblichkeit getrimmt – wie es Ray Kurzweil, der Propagator der sogenannten technologischen Singularität, formuliert: „In 15 Jahren wird es möglich sein, unser biologisches Programm durch Biotechnologie zu modifizieren, was uns lang genug leben lassen kann, bis uns die Nanotechnologie befähigt, ewig zu leben.“

Ob diese Entwicklungen tatsächlich dazuführen können, das Übel, die Krankheit und unsere Endlichkeit zu überwinden, ist mehr als fraglich. Wieder stellt sich die Frage, ob wir uns bedingungslos dem technologischen Fortschritt unterwerfen oder vor allem aus Sicht der Ethik hier Grenzen setzen sollten.


Freiheit und Hoffnung – sie sind es, was der Mensch wirklich braucht. Das schwierige Problem der Freiheit, von der Albert Camus sagt, sie sei Witwe von uns allen, ist eng mit dem Problem der Verantwortung verbunden. Gegen die Auffassung der Hirnforscher ist der Mensch ein Wesen, das weder von den Verschaltungen im Gehirn gelenkt wird noch evolutionsbiologisch ausschließlich zur Selbstreproduktion verurteilt ist. Ohne sich auf eine aus der Metaphysik stammende Dualität zwischen Körper und Geist zu berufen, ist die existenzielle Dimension unseres Seins untrennbar mit der Freiheit verbunden, einer Freiheit, von der Jean-Paul Sartre sagt, wir seien zu ihr verurteilt. Es geht dabei nicht nur um die Freiheit desEinzelnen, sondern um dieBalance zwischen meiner eigenen Freiheit und jener der anderen. – Die in demokratischen Gesellschaften nach jahrhundertelangen Emanzipationskämpfen errungene Freiheit ist nicht nur auf politischem Gebiet bedroht. Die in jüngster Zeit immer stärker werdende Gefahr des Terrorismus hat das Problem von Freiheit und Sicherheit aus der Balance gebracht. Mehr denn je gilt der Satz von Benjamin Franklin: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“ Weder darf die Freiheit auf dem Altar der Sicherheit geopfert werden, noch darf eine schrankenlose Freiheit zu jener Unsicherheit führen, die wir nicht zuletzt aufgrund der Migrationsströme erleben. Das Thema Sicherheit hat dazu geführt, dass unsere Freiheiten immer mehr eingeschränkt und die Grund- und Menschenrechte nicht nur von autoritären Regimen bedroht werden.

Freilich: Das Gewaltmonopol des Staates wäre ohne die neuen Technologien in seiner Ausweitung undenkbar. Der gläserne Bürger ist Realität geworden. Überwachungskameras an allen Orten, Spuren, die wir im Internet hinterlassen, deren sich nicht nur die staatlichen Instanzen, sondern auch die Netzwerkbetreiber bedienen, haben einenmilliardenschweren Markt entstehen lassen. Big Data ist das Geschäft der Gegenwart und Zukunft, und der Kontrollwahn ist weit über ein Sicherheitsstreben hinausgegangen. Die Erstellung eines Profils des Menschen, vom Karriereverlauf, den Gehaltskurven, den Krankheiten bis zu den Ess-, Trink- und Rauchgewohnheiten, ist bereits vollzogen. Der Slogan „Google, der Konzern, der mehr über Sie weiß als Sie selbst“ verrät ebenso wie die geplante Abschaffung des Bargeldes, dass der Mensch in all seinen Handlungen und Vollzügen einer immer totalitärer werdenden Überwachung ausgesetzt ist. Wir stehen heute vor der Frage, inwieweit die Forderung an den Staat um Gewährleistung von Sicherheit für die Bürger eine solche der Gewährleistung von Sicherheit vor dem Staat enthält. Der demokratische Staat, der die Freiheitsrechte seiner Bürger bewahrt und schützt, ist zu einem Überwachungsstaat geworden.

Zugleich führt jedoch die maßlose Ökonomisierung und Durchdringung unserer Lebensbereiche mit einem neuen Egozentrismus zum Verlust jener Solidarität, die wir den am Rande unserer Gesellschaft lebenden Mitbürgern schulden. Die Ersetzung des Menschen durch die Informationstechnologien hat teilweise zu einer Verelendung geführt, wie sie Karl Marx im 19. Jahrhundert infolge der Industrialisierung für die Arbeiterklasse sah.

Unter dem Titel „Prekariat“ lassen sich viele Arbeitsverhältnisse zusammenfassen. Von Null-Stunden-Arbeitsverträgen, der „Freisetzung“ älterer Mitarbeiter bis zu den neu entstandenen Ausbeutungsverträgen für den akademischen Stand reicht die Palette. Vor allem hinsichtlich Letzteren scheint der Ruf nach Bildung geradezu als Hohn. Jene Solidarität, die die Arbeiterschaft sich im vorigen Jahrhundert erkämpft hatte, ist mittlerweile völlig desavouiert, das große neueSklaventum nährt sich nun vornehmlich von Akademikern.

Wir sollten auch nicht vergessen, dass durch das Wegbrechen des sozialen und familiären Zusammenhaltes ein weiterer Pool für Ausbeutung entstanden ist: die Pflege. Gewiss, die Forderung nach einer Grundsicherung ist prinzipiell zu begrüßen, jedoch darf die Politik nicht weiterhin Arbeitsverhältnisse legitimieren, die auf Selbstausbeutung basieren. Eine Balance zwischen jenen, die arbeiten und Leistungen erbringen, und der sogenannten sozialen Hängematte ist notwendig. Solange die Niedriglöhne im Bereich dieser Mindestsicherung liegen oder darunter, wird sich die Wirtschaft nicht erholen können. Wenn der Staat weiterhin Arbeitsleistung, Lohnarbeit unterbewertet und durch mehr als ungerechte Steuer- und Abgabenforderungen keinen Ausgleich schafft, wird der schwer angeschlagene Mittelstand, der den Motor unserer Wirtschaftsform darstellt, völlig einbrechen.

Bleibt hier noch Platz für Hoffnung? Hoffnung, auch in ihrer religiösen Dimension, ist zweifellos ein existenzieller Bestandteil des menschlichen Lebens. Wo die Hoffnung im religiösen Sinn Hoffnung auf ein besseres Dasein imJenseits einschließt, richtet sich eine säkular verstandene Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensumstände für den Einzelnen und die Gemeinschaft. Wohl kann eine religiös motivierte Hoffnung,gleichgültig, nach welchen Hochreligionen siesich ausrichtet, zu einer bestimmten Form von Gelassenheit führen. Die Formel „vanitas vanitatum“ kann unsere Endlichkeit und Verletzlichkeit akzeptieren helfen. Ein religiös motivierter Mensch kann auch aus der Idee eines Lebens nach dem Tod Hoffnung schöpfen, in einer Art, in der er der Unterstützung durch andere nicht bedarf. Ist hingegen die Hoffnung nicht religiös genährt, bezieht sie sich immer auch auf das Verhältnis zu den Mitmenschen. Eine solche Hoffnung ist ohne die anderen nicht denkbar.


Die Berufung auf „Würde“, die allen Menschen gemeinsam ist – ein freilich sehr schillernder, ambivalenter Begriff –, lässt gerade diese Gemeinschaft auch dort erstarken, wo existenzielle Not und Verzweiflung entstanden sind. Der Mensch lebt eben nicht allein vom Brot, sondern er braucht Anerkennung und Unterstützung durch die anderen. Dies ist nicht unbedingt mit Religion verbunden, wohl aber mit einem Ethos. Dieses Ethos muss nicht nur unsere Beziehung zum anderen und zur Gemeinschaft prägen, um in einer Zeit sozialer Kälte zu jenem Miteinander zu führen, das vor allem im dialogischen Denken (Martin Buber, Ferdinand Ebner, Emmanuel Levinas) gefordert wird. Dabei geht es um mehr als bloße Solidarität, es geht um die Verantwortung unseres Handelns dem anderen gegenüber.

Was also braucht der Mensch wirklich? Er braucht den anderen Menschen, nicht in einer technologisch vermittelten Kommunikation, sondern von Angesicht zu Angesicht. ■

Geboren 1942 in Wien. Gründungs- und Altdekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaften an der Universität Wien. Ehemaliger Leiter des Zentrums für Ethik in der Medizin an der Donau-Universität Krems. Sein Beitrag gibt Ausschnitte aus dem Vortrag wieder, den er im Rahmen der Sommergespräche der Waldviertel Akademie („Was braucht der Mensch?“) kommenden Freitag in Weitra hält (Mitarbeit: Eva Horvatic).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2016)

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