Der Schauder, der ausbleibt

„Expedition Europa“: vom Tod am Ende der Morgenmesse – ein Besuch nächst Rouen.

Als die Morgenmesse zu Ende war,stürmten zwei Jugendliche in schwarzer IS-Kleidung die Kirche. An diesem 26. Juli waren nur drei Nonnen zugegen, 72, 79 und 83 Jahre alt, und ein seit 63 Jahren verheiratetes Ehepaar. Die Islamisten schnitten dem Priester, 85, die Kehle durch. Den anderen Greis zwangen sie zu filmen, schnitten ihm auch in die Kehle; er stellte sich 45 Minuten tot und überlebte. Dann diskutierten die Mörder mit den Nonnen, über Todesangst, Jesus, Frieden. Bevor er in die Polizeikugeln hinausging, sang ein Attentäter mit berückender Sanftheit. Am 2. Oktober wurde die Kirche von Saint-Étienne-du-Rouvray neu geweiht. Am Wochenende darauf bin ich da.

Es gibt bereits eine Biografie von Jacques Hamel, „Martyr“. Er gehörte der Generation an, die mit den „Arbeiterpriestern“ sympathisierte. Man sandte ihn stetsin die hoffnungslosesten Vorstädte von Rouen, ein magerer Mann, diszipliniert und schüchtern. Seit er tot ist, fällt den Leuten auf, dass sie vorher nie über ihn gesprochen haben.

Ich komme im Dunkeln an. Diese Vorstadt ist öde und leer. Viele Jalousien und Holzläden werden nie hochgezogen; auf der Straße gibt es auch nichts, auf das man gerne schauen würde. Als ich die Kirche zum ersten Mal erblicke, schaudert es mich. Ich trete näher, sie ist versperrt. An der Außenmauer verwahrloste Sträucher auf grasloser Erde. Der Kirchplatz ist ein wenig genutzter Parkplatz. Wahlwerbung von Trotzkisten und Antikapitalisten, junge Maghrebiner hantieren unter den Kühlerhauben ihrer Kleinwagen.

Der Pfarrer starrt vor sich hin

Am Sonntag gehe ich in die neue Kirche der Vorstadt. Etwa ein Drittel der Gläubigen sind Afrikaner. Anspannung, mandreht sich nach Eintretenden um. Der Pfarrer, ein Kongolese, starrt oft vor sich hin. Am Ende ruft er dazu auf, es mögen sich Freiwillige melden, welche die alte Kirche wenigstens stundenweise für Besucher öffnen: „Ihr werdet immer zu zweit Dienst tun, ihr seid dort nie allein.“ Hinterher frage ich ihn, ob er nie die großzügige Haltung seiner Pfarre gegenüber dem Islam bereut hat. Immerhin steht die Moschee auf einem von der Kirche geschenkten Grundstück, immerhin saß auch Hamel im „comité interconfessionnel“. Pére Auguste ist sicher: „Nein, es ist nicht unsere muslimische Gemeinschaft hier, mit der wir ein Problem haben.“

Das Mesnerpaar sperrt mir die Kirche des Grauens auf. Sébastien und Maria Velardita, auch sie schon um die 80. Hamel war ihr Freund. Wir treten über die Sakristeipforte ein, an der die Terroristen getötet wurden. Nun, da ich vor dem Teppich stehe, der neu ist, weil auf dem alten ihr Pfarrer ausgeblutet ist, bleibt der Schauder aus. Die Mesner rennen nämlich geschäftig durch die Kirche, ich muss gegen ihre Schwerhörigkeit anschreien, und sie sind einfach drollige Italiener. Als würde sie mir den 26. Juli nachspielen wollen, stellt Maria das Lesepult um. Sébastien behauptet, die Attentäter könntenvon Glück reden, dass sie nicht an ihn geraten seien: „Weil mit meinem heißen sizilianischen Blut . . .“

Maria schildert mir, wie die entweihte Kirche „gereinigt“ wurde: das Prozessionskreuz, „das sie aufs Piano schmissen“; der Altar mit den Messereinstichen, „aber der ist aus Eiche, Monsieur!“; auch die Statue der Jungfrau bekam den entrissenen Rosenkranz zurück. Maria wunderlich: „Die Jungfrau haben sie nicht angerührt.“ Ich stelle den Velarditas dieselbe Frage. Sébastien rennt los: „Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was Muslime gemacht haben.“ Er zeigt mir ein Gemälde, der betende Jacques Hamel mit Heiligenschein, „gemalt und geschenkt von Moudine, einem gläubigen Moslem“. Auch die Mesner vonSaint-Étienne-du-Rouvray sind vom Dialog mit dem Islam überzeugt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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